Irrsinn
erwartete. Auße r dem war er nicht sicher, ob er überhaupt ein Wort herausgebracht hätte.
12
Vom oberen Flur gingen drei Schlafzimmer, ein Bad und ein begehbarer Kleiderschrank ab. Vier der fünf Türen waren geschlossen.
An beiden Seiten des Eingangs zum Elternschlafzimmer waren Cartoonhände befestigt, die auf die offene Tür deuteten.
Billy kam sich vor wie ein Tier, das im Schlachthof eine Rampe entlanggetrieben wurde. Weil ihm das gar nicht passte, sparte er sich das Schlafzimmer für zuletzt auf. Zuerst warf er einen Blick ins Bad, dann in den Kleiderschrank und die beiden anderen Schlafzimmer. In eins davon hatte Lanny seinen Zeichentisch gestellt.
Jedes Mal wischte er mit dem Geschirrtuch den Türknauf ab, nachdem er ihn losgelassen hatte.
Als nur noch der ominöse letzte Raum übrig war, stand er einen Moment im Flur und lauschte. Keine einzige Stecknadel fiel herab.
In seiner Kehle war etwas stecken geblieben, das er einfach nicht runterschlucken konnte. Es lag daran, dass es nicht realer war als der Eissplitter, der ihm am Rücken hinabglitt.
Er betrat das Schlafzimmer, in dem zwei Lampen brannten.
Die Tapete mit Rosenmuster, die Lannys Mutter ausgesucht hatte, war weder nach ihrem Tod noch einige Jahre später, als Lanny aus seinem alten Zimmer in dieses umgezogen war, ausgewechselt worden. Inzwischen hatte ihr Hintergrund den angenehm warmen Farbton eines Teeflecks angenommen.
Die Tagesdecke hatte Pearl Olsen besonders gern gemocht. Sie war rosa und an den Kanten mit Blumen bestickt.
Wenn Mrs. Olsen während ihrer Krankheit von der Chemoth e rapie oder einer der vielen Bestrahlungen geschwächt war, hatte Billy oft in diesem Zimmer bei ihr gesessen. Manchmal hatte er einfach mit ihr gesprochen oder sie im Schlaf beobachtet. Oft hatte er ihr jedoch etwas vorgelesen.
Besonders gemocht hatte sie wilde Abenteuergeschichten. Erzählungen, die während der britischen Kolonialzeit in Indien spielten. Geschichten von Geishas und Samurais, von chines i schen Kriegsherren und karibischen Piraten.
Pearl war tot, und Lanny nun ebenfalls. In seine Uniform gekleidet, saß er auf einem Sessel und hatte die Füße auf einen Schemel gestellt, aber tot war er trotzdem.
Man hatte ihm mitten in die Stirn geschossen.
Eigentlich wollte Billy das nicht sehen. Er hatte Angst, das Bild könnte sich in sein Gedächtnis einbrennen. Er wollte weg von hier.
Weglaufen war jedoch keine Option. Das war es noch nie gewesen, weder vor zwanzig Jahren noch jetzt, und auch zu keiner Zeit dazwischen. Wenn er weglief, würde er verfolgt und vernichtet werden.
Die Jagd war eröffnet, und aus Gründen, die er nicht verstand, war er das eigentliche Wild. Eine rasche Flucht würde ihn nicht retten. Auch der Fuchs rettete sich nicht durch seine Geschwi n digkeit. Um den Hunden und Jägern zu entkommen, musste der Fuchs schlau sein und bereit, kein Risiko zu scheuen.
Billy fühlte sich zwar nicht wie ein Fuchs, sondern wie ein Kaninchen, aber das hieß noch lange nicht, dass er wie ein Kaninchen Reißaus nahm.
Die Tatsache, dass kein Blut aus der Wunde ausgetreten und über Lannys Gesicht gelaufen war, wies auf zweierlei hin: zum einen war der Tod augenblicklich eingetreten, und zum anderen hatte das Projektil Lanny den hinteren Teil des Schädels weggeblasen.
An der Tapete hinter dem Sessel klebten allerdings weder Blutflecken noch Gehirnmasse. Offenbar war Lanny weder im Sessel noch anderswo in diesem Zimmer erschossen worden.
Da Billy nirgendwo im Haus Blutflecken vorgefunden hatte, musste der Mord draußen stattgefunden haben.
Vielleicht hatte Billy sein Glas Rum und Cola auf dem K ü chentisch stehen lassen und war halb oder ganz besoffen auf die Veranda getreten, weil er frische Luft brauchte. Oder ihm war klar geworden, dass seine Zielgenauigkeit nicht mehr ausreichte, um die Kloschüssel zu treffen, weshalb er in den Garten gegangen war, um sich dort zu erleichtern.
Offenbar hatte der Mörder eine Plastikplane benutzt, um die Leiche durchs Haus zu schleppen, ohne den Boden zu versauen.
Selbst wenn der Kerl ziemlich viel Kraft hatte, war es definitiv keine leichte Sache gewesen, den toten Lanny vom Garten über die Treppe nach oben zu schaffen. Unnötig war es außerdem gewesen.
Wenn der Mörder es trotzdem getan hatte, dann musste er einen Grund dafür haben, der wichtig für ihn war.
Lannys Augen standen offen. Beide quollen ein wenig aus ihren Höhlen. Das linke war verdreht, als hätte Lanny zu
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