Irrsinn
Lebzeiten geschielt.
Druck. In dem kurzen Augenblick, in dem das Geschoss durchs Gehirn gerast war, hatte der Druck im Schädel zug e nommen, bevor er freigesetzt worden war.
In Schoß des Toten lag ein Roman. Es war eine Buchklubau s gabe, nicht die teurere und größere Version desselben Titels, die es im Buchladen gab. Mindestens zweihundert ähnliche Bände standen auf dem Regal an einer Wand des Schlafzimmers.
Billy konnte den Titel, den Namen des Autors und die Illustr a tion auf dem Schutzumschlag erkennen. Es war eine Geschichte, deren Helden in der Südsee nach Schätzen und wahrer Liebe suchten.
Vor langer Zeit hatte er Pearl Olsen diesen Roman vorgelesen. Er hatte ihr gefallen wie eigentlich alles, was sie las.
Lannys schlaffe Hand ruhte auf dem Buch. Zwischen den Seiten darunter ragte die Kante eines Fotos heraus, das er scheinbar als Lesezeichen eingelegt hatte.
Der Psychopath hatte dies alles arrangiert. Entweder hatte die Szene eine emotionale Bedeutung für ihn, oder sie war eine Botschaft – ein höhnisches Rätsel.
Bevor Billy das Arrangement zerstörte, betrachtete er es aufmerksam. Nichts daran kam ihm zwingend oder besonders raffiniert vor, nichts schien aufregend genug zu sein, um zu erklären, weshalb der Mörder derart viel Mühe für seine Schöpfung aufgewendet hatte.
Billy verspürte Trauer um Lanny, aber noch stärker empfand er ein Gefühl von Hass, weil man seinem Freund selbst im Tod keine Würde gelassen hatte. Der Mörder hatte ihn in der Gegend herumgeschleppt und in Szene gesetzt wie eine Schaufenste r puppe, als wäre die Leiche nur dazu da gewesen, um nach Lust und Laune manipuliert zu werden.
Lanny hatte Billy zwar hintergangen, doch das war jetzt nicht mehr von Belang. An der Grenze zur Dunkelheit, am Rand der großen Leere war kaum eine Kränkung mehr des Erinnerns wert. Das Einzige, was man im Sinn behalten wollte, waren Augenblicke der Freundschaft und des Lachens.
Selbst wenn es an Lannys letztem Tag Differenzen zwischen ihm und Billy gegeben hatte, gehörten die beiden nun zum selben Team und hatten denselben absonderlichen Gegner.
War da nicht ein Geräusch im Flur gewesen?
Ohne zu zögern, nahm Billy den Revolver in beide Hände, trat rasch über die Schwelle des Schlafzimmers und schwang die Waffe von links nach rechts. Niemand.
Die Türen von Bad, Kleiderschrank und den beiden anderen Schlafzimmern waren geschlossen wie vorher.
Es war wohl kaum besonders sinnvoll, diese Zimmer noch einmal zu durchsuchen. Wahrscheinlich hatte er nur ein Ächzen gehört, mit dem das alte Haus gegen das Gewicht der Zeit aufbegehrte. Das Geräusch einer sich öffnenden oder schließe n den Tür war es sicherlich nicht gewesen.
Er wischte sich die feuchte linke Hand am Hemd ab, nahm damit den Revolver, trocknete auch die rechte Hand, wechselte die Waffe wieder um und ging zum Treppenabsatz.
Vom unteren Flur und von der Veranda jenseits der offenen Haustür her kam nur das Schweigen der Sommernacht, eine finstere Stille.
13
Während Billy lauschend oben an der Treppe stand, begann es in seinen Schläfen schmerzhaft zu pochen. Er merkte, dass seine Zähne fester zusammengepresst waren als die Backen eines Schraubstocks.
Er versuchte sich zu entspannen, indem er durch den Mund atmete. Um die versteiften Halsmuskeln zu lockern, drehte er den Kopf von einer Seite zur anderen.
Stress konnte nützlich sein, wenn man ihn dazu benutzte, um konzentriert und wach zu bleiben. Angst konnte lähmen, aber auch den Selbsterhaltungstrieb schärfen.
Er ging ins Schlafzimmer zurück.
Nach einigen Schritten dachte er plötzlich, Leiche und Buch wären verschwunden, doch Lanny saß noch immer auf dem Sessel.
Aus einem Spender auf dem Nachttisch zog Billy zwei Papie r taschentücher, um sie als provisorischen Handschuh zu benutzen. Damit geschützt, schob er die Hand des Toten vom Buch.
Ohne das Buch vom Schoß der Leiche zu nehmen, schlug er es an der Stelle auf, in die das Foto eingelegt war.
Er hatte erwartet, einen Satz oder einen ganzen Abschnitt markiert vorzufinden, um als Botschaft zu dienen, doch das war nicht der Fall.
Mit dem Taschentuch hob er das Foto auf, einen Schnap p schuss.
Sie war jung, blond und hübsch. Nichts auf dem Bild ließ auf ihren Beruf schließen, doch Billy wusste auch so, dass sie Lehrerin gewesen war.
Ihr Mörder musste die Aufnahme in ihrem Haus unten in Napa gefunden haben. Davor oder danach hatte er ihr brutal die Schönheit aus dem Leib
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