Irrsinn
Landstraßen für sich hatte. Die Nacht war still, nur der Fahrtwind rauschte durch das zerborstene Fenster. Die Weinberge und die bewaldeten Höhen, die im Scheinwerferlicht auftauchten, waren seinen Augen zwar vertraut, doch seinem Herz wurden sie mit jedem Kilometer fremder, bis sie ihm vorkamen wie ein völlig unb e kanntes Ödland.
ZWEITER TEIL - Bist du bereit für deine zweite Wunde?
17
Im Februar war Billy beim Kieferorthopäden gewesen, um sich einen Backenzahn ziehen zu lassen, dessen Wurzeln mit dem Kiefer verwachsen waren. Dabei hatte er ein starkes Schmerzmittel verschrieben bekommen. Von den zehn Tabletten hatte er nur zwei verbraucht.
Auf dem Beipackzettel war angegeben, man solle das Med i kament zu einer Mahlzeit einnehmen. Billy hatte noch nichts zu Abend gegessen, und er hatte noch immer keinen Appetit.
Egal, das Zeug musste korrekt eingenommen werden. Er ging zum Kühlschrank und holte eine Auflaufform mit dem Rest der Lasagne heraus, die er sich selbst zubereitet hatte.
Die Wunden in der Stirn bluteten zwar nicht mehr, doch der Schmerz pochte hartnäckig weiter und machte es zunehmend schwieriger, klar zu denken. Deshalb beschloss Billy, sich selbst die paar Minuten zu sparen, die nötig gewesen wären, um das Essen in der Mikrowelle aufzuwärmen. Er stellte es kalt auf den Küchentisch.
Ein rosa Aufkleber auf dem Pillenfläschchen warnte davor, das Schmerzmittel gemeinsam mit alkoholischen Getränken einzunehmen. Egal. Er hatte nicht die Absicht, in den komme n den Stunden ein Auto zu lenken oder schwere Maschinen zu bedienen.
Nachdem er eine Tablette geschluckt hatte, schaufelte er sich eine Gabel Lasagne in den Mund und spülte alles mit einem dänischen Bier hinunter, das einen vergleichsweise hohen Alkoholgehalt aufwies.
Beim Essen dachte er über die tote Lehrerin nach, über den im Sessel sitzenden Lanny und darüber, was der Mörder wohl als Nächstes tat.
Besonders appetitanregend und verdauungsfördernd waren diese Gedanken nicht. Die Lehrerin und Lanny waren nicht mehr zu retten, und es gab keinerlei Möglichkeit, den nächsten Schachzug des Mörders vorherzusagen.
Da war es besser, an Barbara Mandel zu denken, vor allem an die Barbara, wie sie einst gewesen war, nicht so, wie sie jetzt im Pflegeheim lag. Unausweichlich führten jedoch auch diese Gedanken zum gegenwärtigen Augenblick, und Billy überlegte bekümmert, was wohl mit Barbara geschehen würde, wenn er starb.
Dann erinnerte er sich an den kleinen, quadratischen U m schlag, den ihm ihr Arzt hingelegt hatte. Er zog ihn aus der Tasche und riss ihn auf.
Anstelle eines Briefkopfs war auf der beigefarbenen Karte der Name DR . JORDAN FERRIER eingeprägt. In der akribischen Handschrift des Arztes stand darunter:
Lieber Billy, immer wenn Sie Ihre Besuche so planen, dass ich Ihnen während meiner üblichen Visite nicht begegnen kann, weiß ich, dass die Zeit für unser halbjährliches Gespräch über Barbaras Zustand gekommen ist. Bitte melden Sie sich telef o nisch bei meinem Büro, um einen Termin zu vereinbaren.
Tau perlte an der Bierflasche herab. Billy benutzte Dr. Ferriers Karte als Unterlage, um den Tisch zu schützen.
»Wie wär’s, wenn du zur Abwechslung mal mein Büro a n rufst, um einen Termin zu vereinbaren«, knurrte Billy.
Die Auflaufform war immer noch zur Hälfte mit Lasagne gefüllt. Obwohl er keinerlei Appetit hatte, schaufelte er alles in sich hinein. Dabei kaute er so kräftig, als könnte er seine Wut dadurch so leicht sättigen wie seinen nicht vorhandenen Hunger.
Allmählich ging der Schmerz in seiner Stirn erheblich zurück.
Er ging in die Garage, wo er sein Angelzeug aufbewahrte. Aus dem Gerätekasten holte er eine Kneifzange, mit der man Draht durchtrennen konnte.
Ins Haus zurückgekehrt, sperrte er die Hintertür ab und ging ins Badezimmer, um sein Gesicht im Spiegel zu betrachten. Die blutige Maske war getrocknet. Er sah aus wie ein Ureinwohner der Hölle.
Der Irre hatte die drei Angelhaken mit Sorgfalt eingesetzt. Offenbar war er bemüht gewesen, so wenig Schaden wie möglich anzurichten.
Am einen Ende jedes Hakens befand sich die mit einem W i derhaken versehene Spitze, am anderen Ende die Öse zur Befestigung der Angelleine. Das Ding in der einen oder anderen Richtung einfach herauszuziehen, hätte die Wunden erheblich vergrößert.
Mit der Kneifzange entfernte Billy die Öse des ersten Hakens. Dann fasste er mit Daumen und Zeigefinger die Spitze und zog den Rest
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