Irrsinn
Wunde?
Das Wörtchen »erste« hatte der Irre zwar weder unterstrichen noch kursiv geschrieben, doch Billy begriff auch so, wo die Betonung lag. Er hatte zwar seine Fehler, aber ein Hang zu Selbsttäuschung gehört nicht dazu.
Wenn er die Botschaft nicht las und versuchte, sich dem Spiel zu verweigern, war er noch weniger in der Lage zu erahnen, was auf ihn zukam. Und wenn dann die Axt auf ihn herabfiel, würde er nicht einmal hören, wie ihre Schneide durch die Luft sauste.
Abgesehen davon sah der Mörder das Ganze gar nicht als Spiel, das war Billy schon gestern Abend klar geworden. Wenn sich sein vermeintlicher Spielgefährte verweigerte, nahm der Irre bestimmt nicht einfach den Ball unter den Arm und ging nach Hause, sondern er zog trotzdem durch, was er im Sinn hatte.
Am liebsten hätte Billy jetzt Akanthusblätter geschnitzt.
Ein Kreuzworträtsel zu lösen wäre genauso schön gewesen. Das konnte er gut.
Die Wäsche machen, im Garten arbeiten, die Regenrinnen ausräumen, den Briefkasten neu lackieren – er konnte sich wunderbar in den banalen Aufgaben des Alltags verlieren und darin Trost finden.
Auch in der Kneipe hätte er jetzt gern gearbeitet, damit die Stunden mit monotonen Handbewegungen und hohlen Unterha l tungen vergingen.
Alles Geheimnisvolle, was er brauchte – und auch alles Dr a matische – fand er bei seinen Besuchen im Pflegeheim, in den rätselhaften Worten, die Barbara gelegentlich von sich gab, und in seinem unverbrüchlichen Glauben, dass doch Hoffnung für sie bestand. Mehr brauchte er nicht, und mehr besaß er auch nicht.
Genauer gesagt, hatte er bisher nicht mehr gehabt – bis zu dieser Sache jetzt, die er nicht brauchte und nicht wollte, und der er dennoch nicht entkommen konnte.
Nachdem er die Brötchen verzehrt hatte, spülte er Teller und Messer, trocknete das Geschirr ab und stellte es weg.
Im Badezimmer zog er sich den Verband von der Stirn. Jeder Angelhaken hatte ihn an zwei Stellen durchbohrt. Die sechs Löcher sahen rot und roh aus.
Behutsam wusch er die Wunden aus, um anschließend erneut Alkohol, Wasserstoffperoxid und Salbe aufzutragen. Dann legte er sich einen frischen Verband an.
Seine Stirn fühlte sich kühl an. Wären die Haken verschmutzt gewesen, so hätte selbst die penibelste Wundversorgung eine Infektion womöglich nicht verhindern können, vor allem nicht, wenn der Knochen verletzt worden war.
Gegen Tetanus war er geschützt. Als er vor vier Jahren die Garage renoviert hatte, um seine Holzwerkstatt einzurichten, da hatte er sich an einem verrosteten Scharnier die linke Hand aufgeschnitten und eine Auffrischungsimpfung erhalten. An Tetanus würde er also nicht sterben.
Natürlich würde er auch nicht an irgendwelchen infizierten Angelhakenwunden sterben. Das redete er sich nur ein, um nicht ständig an realere und größere Bedrohungen zu denken.
Entschlossen ging er in die Küche und löste den Zettel vom Kühlschrank. Er zerknüllte ihn in der Faust und brachte ihn zum Abfalleimer.
Statt die Botschaft wegzuwerfen, legte er sie auf den Tisch, um sie zu glätten und zu lesen.
Bleib heute Morgen zu Hause. Ein Kompagnon von mir wird dich um 11.00 Uhr aufsuchen. Erwarte ihn auf der vorderen Veranda. Wenn du nicht zu Hause bleibst, werde ich ein Kind umbringen. Wenn du die Polizei benachrichtigst, werde ich ein Kind umbringen. Du scheinst sehr zornig zu sein. Habe ich dir nicht die Hand zur Freundschaft gereicht? Doch, das habe ich getan.
Ein Kompagnon. Dieser Ausdruck beunruhigte Billy. Er mochte ihn überhaupt nicht.
In seltenen Fällen arbeiteten psychopathische Mörder zu zweit. So etwas bezeichnete man bei der Polizei salopp als »Mor d kumpel«. Zum Beispiel hatte sich herausgestellt, dass der »Hillside Strangler« von Los Angeles in Wirklichkeit zwei Cousins gewesen waren. Auch bei dem »D.C. Sniper« hatte es sich um zwei Männer gehandelt.
Die Manson Family bestand sogar aus mehr als zwei Mitgli e dern.
Ein einfacher Barkeeper konnte zwar hoffen, einen einzelnen mordlüsternen Irren zur Strecke zu bringen, aber bei zweien war das keine vernünftige Annahme mehr.
Dennoch zog Billy nicht in Betracht, zur Polizei zu gehen. Der Mörder hatte bereits zweimal bewiesen, dass er es ernst meinte, und wenn Billy ihm nicht gehorchte, würde er ein Kind umbri n gen.
Zumindest musste in diesem Fall keine Wahl getroffen we r den, durch die ein Mensch zu Tode kam.
Die ersten drei Absätze der Botschaft waren unmissverstän d lich, doch die
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