Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
man auf die Zeit vor Ende des Zweiten Weltkriegs zurückgehen, als sich Argentinien und die Vereinigten Staaten beharkten. Vorderhand ging es um den Verdacht, die argentinische Regierung unter Ramón Castillo sei den Nazis wohlgesinnt, ebenso die 1943 putschenden Militärs, und in Erwartung der Niederlage würden führende Nazis im großen Stil Geld nach Argentinien bringen. Diese Annahmen nutzten die Befürworter einer US-amerikanischen Kriegsbeteiligung im innenpolitischen Streit mit den Isolationisten, die ein Engagement an der Seite Großbritanniens und der Sowjetunion ablehnten, denn so ließ sich eine Bedrohung durch den Faschismus über Europa hinaus glaubhaft machen, und noch dazu in Lateinamerika, direkt vor der Tür der Vereinigten Staaten. Zudem gab es seit Anfang 1945 Meldungen über die Flucht führender SS-Angehöriger nach Südamerika, die allerdings auf Gerüchten beruhten. Der Vorwurf, nazifreundlich zu sein, wurde ebenso gegen Juan Perón erhoben, als er 1946 das argentinische Präsidentenamt anstrebte, denn Washington unterstützte dessen politische Gegner. Man ging sogar so weit zu behaupten, seit 1942 hätten sich alle Regierungen darum bemüht, aus Argentinien einen faschistischen Staat zu machen.
Natürlich ließen sich solche Anschuldigungen nicht ohne jede Grundlage erheben. Die nötigen Informationen stammten von einem windigen Nazigegner namens Heinrich Jürges, der im südamerikanischen Exil lebte und schon früh eine Nazitätigkeit in Argentinien ausgemacht hatte, ohne dafür aber stichhaltige Beweise liefern zu können. Zurückgekehrt fütterte Jürges nunmehr aus Nachkriegsdeutschland den argentinischen Oppositionsführer Santander mit Informationen über angebliche Naziverstrickungen Peróns und seiner glamourösen Frau Evita. Als später genauer hingesehen wurden, stellten sich die Informationen als falsch und die angeblichen Dokumente als gefälscht heraus. Auch diesmal blieb Jürges Beweise schuldig, was aber weder die US-Regierung noch die argentinische Opposition davon abhielt, die Gerüchte politisch weiter zu instrumentalisieren. Einstweilen war die Organisation Odessa aber noch nicht Gegenstand des breiten Interesses.
Das änderte sich in den Sechzigerjahren, als nach der Entführung des Naziverbrechers Adolf Eichmann aus Argentinien 1960, dem anschließenden aufsehenerregenden Prozess in Tel Aviv und seiner Verurteilung und Hinrichtung zwei Jahre später der Verbleib erfolgreich geflüchteter NS-Verbrecher zu einem großen Thema wurde. Die Gegner eines Endes der westdeutschen Nazitäter-Strafverfolgung nutzten die angebliche Organisation als Argument gegen Verjährungsfristen. Auch der berühmte Nazijäger Simon Wiesenthal wurde auf Odessa und Heinrich Jürges aufmerksam und, überzeugt von der Existenz der Geheimorganisation, verschaffte ihr international einen bemerkenswerten Bekanntheitsgrad, wobei ihn unter anderem die israelische Regierung unterstützte. Ebenso nährte die DDR-Staatssicherheit die Gerüchte, die ihr zur erhofften Destabilisierung des westdeutschen Konkurrenzstaates dienlich schienen. Schließlich hielten es immer mehr Menschen für eine Tatsache, dass das NS-Regime von höchster Stelle und lange vor Kriegsende begonnen hatte, seine Leute mit gefälschten Papieren die Flucht und durch Geldtransfers nach Südamerika deren Unterstützung vorzubereiten. Angeblich hätten sich 1944 im Straßburger Hotel »Maison Rouge« Vertreter der deutschen Industrie getroffen, um die Verschiebung großer Vermögenswerte ins sichere Ausland in die Wege zu leiten. Wie der Historiker Heinz Schneppen feststellte, hat dieses Treffen allerdings nie stattgefunden – schon weil einige der angeblichen Teilnehmer zum fraglichen Zeitpunkt bereits tot oder im KZ inhaftiert waren. Auch wäre der Geld- oder Goldtransfer zu diesem Zeitpunkt bereits unmöglich gewesen, war Deutschland doch längst komplett isoliert. Im Übrigen stießen die Alliierten nach Kriegsende auf das legendäre »Nazigold«, also die Goldvorräte der Reichsbank.
Zu den Schlüsselfiguren der Odessa gehörten nach Überzeugung Wiesenthals neben Adolf Eichmann der NS-Arzt Josef Mengele und der Hitler-Stellvertreter Martin Bormann. Nach seinen Informationen reichten die Aktivitäten der Organisation aus Südamerika bis zurück in die Bundesrepublik, wo sie Neonazis bei ihrer Sabotagearbeit gegen die junge westdeutsche Demokratie unterstützte. Noch populärer wurde das schillernde Thema durch den Roman Die Akte
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