Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
quasi mit nichts angefangen werden musste, aber damit auch der Aufbau einer modernen Wirtschaftsinfrastruktur möglich war, der langfristig einen Standortvorteil nach sich zog. Und auch der politische und gesellschaftliche Neuanfang barg nach dieser Lesart ein enormes Potenzial, weil keine behindernden Verkrustungen mehr im Wege standen, sondern zupackend, spontan und kalkuliert entschieden werden konnte.
Diese Hypothese ist einerseits plausibel und durchaus reizvoll, wurde aber gleichwohl immer wieder angegriffen, weil sie doch ein wenig vereinfachend argumentiert. Ganz allgemein ist der Mythos der Stunde null in die Jahre gekommen, denn der Neuanfang war in vielerlei Hinsicht nicht so radikal, wie der Begriff nahelegt. Das gilt auch für den wirtschaftlichen Bereich.
Deutschland erschien komplett zerstört. Weltweit zeigten Wochenschauen lange Kamerafahrten durch endlose Trümmerwüsten, in denen man sich kein Leben mehr vorstellen mochte. Tatsächlich aber verdeckten der Augenschein und die grimmige Befriedigung der Alliierten über die verheerende Wirkung ihrer enormen Anstrengungen, dass das eigentliche Ziel des massiven Bombenkrieges völlig verfehlt worden war. Die Wohngebiete deutscher Städte waren in der Tat zu großen Teilen zerstört oder stark beschädigt. Die sogenannten strategischen Zerstörungen der Industrieanlagen aber, auf die die Bombardements anfangs vor allem abgezielt hatten, fielen sehr viel geringer aus als geplant, und die Kriegswirtschaft produzierte vielerorts noch bis kurz vor Kriegsende bei hohem Ausstoß. Weil Deutschland in seiner industriellen Substanz weniger getroffen war als vermutet, folgte im Sommer 1945 dem faktischen Stillstand der Produktion fast überall im Land deren baldige Wiederaufnahme. Der entbehrungsreiche und düster stimmende Eiswinter 1946/47, der ins Arsenal kollektiver Erinnerung einging, ist dabei keineswegs ein Beleg für die siechende deutsche Nachkriegswirtschaft. Vielmehr erwies er sich als wirtschaftslähmend aufgrund der zerstörten Verkehrsinfrastruktur und der zugefrorenen Wasserwege, nicht wegen eines Stillstands in den Fabriken. Während im Ruhrgebiet die Kohlenhalden anwuchsen, froren in anderen Landesteilen die Menschen.
Trotz der enormen Verluste an Menschen gab es auch keinen Mangel an Arbeitskräften, denn acht Millionen Flüchtlinge aus den abgetrennten Teilen des Deutschen Reichs füllten die Lücken zahlenmäßig wieder auf. Allerdings waren die Arbeitskräfte anfangs oft nicht dort verfügbar, wo sie gebraucht wurden. Ebenso hatten die nach und nach ankommenden knapp drei Millionen Flüchtlinge aus Ostdeutschland ihren Anteil am Wirtschaftsaufbau, außerdem von dort abwandernde Firmen. Die Rolle der Vertriebenen ist ohnehin als erheblich anzusetzen, so in Bayern, wo ganze Branchen aus Schlesien oder Pommern wieder zusammenfanden, sich am Wiederaufbau beteiligten und wesentlich dazu beitrugen, aus einem weitgehenden Agrar- ein florierendes Industrieland zu machen.
Alles in allem waren die Voraussetzungen also nicht so schlecht wie angenommen, und doch dauerte es, bis der Wiederaufbau Erfolg zeitigte und in einen dauerhaften Aufschwung überging. Anfänglich wirkte sich die Aufteilung Deutschlands in mehrere Besatzungszonen hemmend aus, weil die Siegermächte nicht dieselbe wirtschaftliche Strategie für Deutschland verfolgten und die Zonen durch Grenzen voneinander getrennt waren. Außerdem verhielten sich die Alliierten wirtschaftspolitisch eher zögerlich, was sich hemmend auswirken musste.
Aber bereits das Jahr 1947 sah Entscheidungen und Entwicklungen, die eine baldige wirtschaftliche Konsolidierung ermöglichten. Mit der Zusammenlegung der US-amerikanischen und britischen Zonen zur westdeutschen Bizone im Januar 1947 und schließlich der Gründung »Trizonesiens« unter Einschluss der französischen Zone im Jahr darauf wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen; ein Weiteres tat der einsetzende Außenhandel seit 1948, den die Exportbranche zu nutzen verstand. Gleichzeitig bewogen die weltpolitischen Entwicklungen die US-Regierung, die bisherige zögerliche Wirtschaftspolitik in Deutschland durch mehr Einsatz zu befördern – um so zu verhindern, dass auch Westdeutschland unter sowjetischen Einfluss geriet. Deutschland wurde zum Schlüsselland für die US-amerikanischen Anstrengungen zum Wiederaufbau Europas. Der Schwerpunkt lag fortan auf der Wiederherstellung einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur: eine weitere
Weitere Kostenlose Bücher