Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
Odessa des britischen Bestsellerautors Frederick Forsyth, in dem die Geheimorganisation von Argentinien aus eifrig an einer zweiten Machtergreifung in Deutschland und der Vernichtung Israels arbeitet. Einen weiteren Schub an Popularität verschaffte Odessa Anfang der Siebzigerjahre die antifaschistische Aktivistin Beate Klarsfeld bei ihrer rastlosen Suche nach dem untergetauchten Naziverbrecher Klaus Barbie. In diesem Zusammenhang verbreiteten weitere windige, mitunter geschäftstüchtige Charaktere die Behauptung, führende Odessa-Vertreter hätten sogar noch einige Jahre nach Kriegsende im spanischen Marbella eine regelrechte Konferenz abgehalten, und lieferten gar den Namen einer Tarnfirma, in deren Namen die Geheimorganisation in Argentinien unbehelligt operiere. Bei einer zweiten Verjährungsdebatte Ende der Siebzigerjahre in der Bundesrepublik ging es ein weiteres Mal um Odessa, und ebenso in den Neunzigerjahren, als wieder einmal nach den Vermögenswerten gesucht wurde, die die Nazis den europäischen Juden geraubt hatten. Die inzwischen geöffneten US-Archive förderten Dokumente aus den Vierzigerjahren zutage, die sich auf die engen Verbindungen zwischen Nazideutschland und Argentinien bezogen und die Existenz von Odessa zu beweisen schienen. Nur handelte es sich um dieselben Fälschungen und unbewiesenen Vermutungen, die bereits seit den letzten Kriegsjahren immer wieder herangezogen wurden, ohne deshalb echter geworden zu sein. Aber sie passten ins Kalkül ihrer Nutzer – so wie diese Behauptungen seit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches mit schöner Regelmäßigkeit bestimmten Interessen in die Hände gespielt hatten und aufgegriffen worden waren, ohne mit größerem Wahrheitsdrang nach ihrer Substanz zu fragen. Schon wegen des Sensationsgehalts von jeglichen Vermutungen und Gerüchten, die sich auf das Weiterleben von NS-Führern und NS-Strukturen beziehen, war damit auch stets eine beachtliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Das hat dazu geführt, dass es Historiker bis heute überaus schwer haben, der breiten Öffentlichkeit begreiflich zu machen, dass es niemals handfeste Hinweise, geschweige denn Beweise für die Existenz einer Organisation Odessa gegeben hat.
Der westdeutsche Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Wunder – IRRTUM!
Damit war wohl kaum zu rechnen gewesen: Das Land, das den Zweiten Weltkrieg entfesselt und ganz Europa mit Terror und Zerstörung überzogen hatte, das seinerseits mit Zerstörung, empfindlichen Gebietsverlusten und Teilung bestraft worden war, vollzog in seinem westlichen Staatenteil nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg. Da lag es nahe, dieses unerwartete Wiedererstehen als Wirtschaftswunder zu beschreiben. Und wie ein Mysterium muss es auf die Westdeutschen gewirkt haben, die in noch immer kriegsversehrten Städten ihre Nasen an den Schaufensterscheiben platt drückten, denn nach der Währungsreform 1948 füllten sich plötzlich die Auslagen und das allmählich steigende Lohnniveau seit den frühen Fünfzigerjahren ermöglichte es, als Konsument davon zu profitieren. Oder die voller Stolz verfolgten, dass deutsche Produkte in Ländern, gegen die man eben noch unerbittlich Krieg geführt hatte, schon wieder gefragt waren. Aber ebenso überraschend kam der westdeutsche Wiederaufstieg auch im Ausland an, das den deutschen Zusammenbruch als in jeder Hinsicht total erlebt und es für ausgemacht gehalten hatte, dass die Erholung davon lange Zeit beanspruchen würde.
Das »Wunder« kann ziemlich genau datiert werden: Im Sommer 1952 schnellten mit einem Mal die Wachstumsraten der westdeutschen Wirtschaft nach oben, der Handelsüberschuss blieb beständig, und bei bleibend niedriger Inflationsrate stieg der Lebensstandard spürbar an. Aber kam diese Entwicklung wirklich so plötzlich und unerwartet, wie es viele Zeitgenossen wahrgenommen haben?
Einer der Erklärungsansätze für eine tatsächlich gar nicht so verwunderlich verlaufene Entwicklung bezieht sich paradoxerweise auf eben den Aspekt, der zur Wahrnehmung als Wunder besonders viel beitrug: der deutsche Zusammenbruch und die »Stunde null«. Denn weil das Ende NS-Deutschlands 1945 in jeder Hinsicht als total wahrgenommen wurde und angesichts eines weitgehend zerstörten Landes schien eine Erholung vom Totalzusammenbruch ja besonders schwierig. Die sogenannte Tabula-rasa-Hypothese jedoch versteht das Kriegsende als Chance des totalen Neuanfangs, weil zwar
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