Irrwege
Entsetzen. Sein Bürge verlor einige Zeit später den Verstand und sprang in den
Mahlstrom. Ich kann es ihm nicht verdenken. Ich habe den Leichnam gesehen. Vier
Arme. Manchmal träume ich heute noch davon.«
Sie schwieg, ihr Mund wurde zu einem schmalen
Strich. Hugh, der in das harte, gnadenlose Gesicht blickte, sah es erbleichen.
Die Lippen waren zusammengepreßt, damit sie nicht zitterten. Nachdenklich sah
er auf das Messer und fühlte, wie sein Magen sich zusammenkrampfte.
»Die Vorfälle hätten das Ende für die
Bruderschaft bedeuten können.« Ciang betrachtete ihn aus den Augenwinkeln.
»Wenn das bekannt geworden wäre… Man hätte uns beschuldigt, selbst diesen
schrecklichen Fluch auf den Jungen geworfen zu haben. Ich handelte schnell. Im
Schutz der Dunkelheit wurde der Leichnam hierher geschafft, der Partner
ebenfalls. Er wurde befragt, vor Zeugen. Ich las ihnen das Vermächtnis vor –
dieses hier. Es war bei dem Dolch gewesen, als man ihn uns seinerzeit übergab.
Wir kamen überein, daß die Waffe tatsächlich verflucht war. Ich erklärte sie
für tabu. Den grotesk entstellten Toten begruben wir in aller Heimlichkeit.
Allen Brüdern und Schwestern wurde bei Todesstrafe verboten, von dem Vorfall zu
sprechen.
Das ist lange her. Inzwischen«, meinte sie
leise, »bin ich die einzige, die sich noch daran erinnert. Niemand, nicht
einmal der Uralte, dessen Großvater damals noch nicht geboren war, weiß von dem
fluchbeladenen Dolch. Ich habe das Verbot, ihn zu benutzen, in meinem Testament
niedergelegt, darüber hinaus habe ich Stillschweigen über die Sache bewahrt.
Bis heute.«
»Deckt ihn zu«, sagte Hugh kategorisch. »Ich
will das Ding nicht haben.« Er runzelte finster die Brauen. »Ich war bisher nie
auf Magie angewiesen…«
»Man hat dich bisher auch noch nie beauftragt,
einen Gott zu ermorden«, hielt Gang ihm gereizt entgegen.
»Der Zwerg, Limbeck, behauptet, sie wären keine
Götter. Er sagte, Haplo wäre so gut wie tot gewesen, als er ihn damals fand,
ganz wie ein gewöhnlicher Sterblicher. Nein, ich will nichts damit zu tun
haben!«
Zwei rote Zornesflecken erschienen auf den
eingefallenen Wangen der Greisin. Eine aufgebrachte Erwiderung schien ihr auf
der Zunge zu liegen, aber sie beherrschte sich. Die roten Flecken verblaßten,
die mandelförmigen Augen blickten kühl.
»Die Entscheidung liegt natürlich bei dir, mein
Freund. Wenn du darauf beharrst, in Unehre zu sterben, ist das deine
ureigenste Angelegenheit. Ich werde nichts dazu sagen, nur erlaube mir, dich
darauf hinzuweisen, daß noch ein anderes Leben hier auf dem Spiel steht.
Vielleicht hast du daran nicht gedacht?«
»Welches andere Leben?« forschte Hugh
mißtrauisch. »Der Junge, Gram, ist tot.«
»Aber seine Mutter lebt. Eine Frau, für die du
starke Gefühle hegst. Wer weiß, ob – falls du scheiterst – Haplo sich nicht
ihrer bemächtigen würde? Sie weiß, wer er ist; was er ist.«
Hugh dachte zurück. Iridal hatte ihm von Haplo
erzählt, aber was? Es war so wenig Zeit gewesen für Gespräche. Seine Gedanken
waren bei anderen Dingen gewesen – das tote Kind auf seinen Armen, Iridals
Trauer, seine eigene Verwirrung darüber, am Leben zu sein, wo er tot sein
sollte. Nein, was immer sie über die Patryn gesagt hatte, war in dem von
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung durchwobenen Nebelschleier jener Nacht
verlorengegangen. Was hatte das außerdem alles mit ihm zu tun? Seine Seele
gehörte den Kenkari.
Er wollte nichts weiter als seine Arbeit tun, um
endlich wieder in den Frieden einzugehen, den man ihm entrissen hatte.
Würde Haplo versuchen, Iridal zu finden? Er
hatte ihren Sohn als Geisel genommen. Warum nicht sie? Konnte Hugh es sich
leisten, das Risiko einzugehen? Immerhin stand er in ihrer Schuld.
»Es gibt ein Vermächtnis?« fragte er Gang.
Ihre Hand griff in eine Tasche ihrer voluminösen
Gewänder und zog einige mit einem schwarzen Band zusammengeschnürte Bögen
Pergament heraus. Das Pergament war alt und vergilbt, das Band zerschlissen
und verblaßt. Sie strich die Blätter glatt.
»Vergangene Nacht habe ich es hervorgeholt, das
erstemal wieder seit jenem furchtbaren Ereignis. Damals las ich es den Zeugen
laut vor. Jetzt werde ich es dir vorlesen.«
Hugh biß die Zähne zusammen. Er wollte den Text
gründlich studieren, allein und in Ruhe, aber er wagte nicht, sie vor den Kopf
zu stoßen. »Ich habe Euch schon so viele Umstände gemacht,
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