Isau, Ralf - Neschan 03
keiner Äußerung fähig. Mit allem hatte er gerechnet – mit wüsten Beschimpfungen, Feuerattacken oder dem schnellen Zuschnappen der großen Schnauze –, aber nicht damit, dass Garmok ihm eine derart banale Frage stellen würde.
»Hat dir ein Fels die Sprache aus dem Kopf geschlagen? Warum sagst du nichts?«
»Es passiert schließlich nicht jeden Tag, dass sich ein halb unter Trümmern verschütteter Drache nach der Witterung erkundigt.«
Mit einem kräftigen Schütteln warf Garmok den Rest der auf ihm lastenden Steine ab, streckte sich wie nach einem langen Schlaf und kauerte sich bequem auf den Höhlenboden. »Nun denn. Ich habe dich gefragt, weil ich mir eine neue Höhle werde suchen müssen, wenn erst der Regen einsetzt. Du hast von meiner ja nicht viel übrig gelassen.«
»Oh.« Yonathan schaute sich verwundert um, als sähe er die Spuren der Zerstörung zum ersten Mal. »Das tut mir Leid. Es lag nicht in meiner Absicht, dein Dach zu beschädigen.«
»Schon gut«, erwiderte der Drache. »Ich habe es nicht besser verdient. Und wenn man es genau nimmt, ist das Auge Bar-Hazzats an allem Schuld.«
»Deine Einsicht erstaunt mich.« Yonathan fand die Kraft einen zaghaften Vorstoß in Garmoks Gefühle zu unternehmen, konnte jedoch keine Arglist entdecken. War es möglich, dass er seinen ursprünglichen Plan doch noch verwirklichen konnte? »Warum hast du dich dann vorhin so heftig dagegen gewehrt, mir den Bannstein zu überlassen?«
Die großen Augen des Drachen blinzelten. »Vorhin? Ach!« Er schien sich zu erinnern. »Ich war vielleicht etwas – wie würdet ihr Menschen es wohl ausdrücken? – benebelt.«
»Diesen Eindruck hatte ich allerdings auch.«
Garmoks Kopf rückte näher. »Willst du dich über mich lustig machen?«
»Wie konntest du dich nur darauf einlassen, Bar-Hazzats Auge unter deine Fittiche zu nehmen, wenn du dafür deinen freien Willen aufgeben musstest?«
»Dessen war ich mir nicht bewusst.«
»Ich denke, Drachen wissen alles.«
Garmok überhörte diesmal die Spitze. »Bar-Hazzat ist nicht von dieser Welt. Gegen seine Schliche bin selbst ich machtlos. Du kennst sicher unsere besondere Vorliebe für Juwelen und anderes wertvolles Glitzerzeug.«
Yonathan nickte. »Wie etwas zu groß geratene Elstern.«
Es war Garmok anzusehen, dass er nicht ganz einverstanden war mit dem Vergleich. So sprach er erst weiter, nachdem er sich den Staub aus den Nüstern gepustet hatte: »Bar-Hazzat bot mir hier einen idealen Drachenhorst und dazu einen unvergleichlichen Schatz. Er verschwieg allerdings, dass ich zu seinem Sklaven würde, sobald ich mich dem Einfluss des Auges aussetzte; ich war nicht mehr Herr meiner eigenen Gedanken. Es klang alles so verlockend: Ich müsse nur dafür sorgen, dass niemand den karminroten Juwel anrühre oder forttrage. Dieses Versprechen zu geben fiel mir nicht schwer – Drachen sind sehr penibel mit ihrem Besitz.«
Yonathan nickte verständnisvoll. »Was für ein Ort ist das hier?« Er machte eine umfassende Geste.
»Früher war es ein Tempel zu Ehren Melech-Arez’. Aber das ist schon lange her. Es gab ein großes Verlassen, etwa zu der Zeit, als Yehwohs Fluch die Stadt Abbadon traf.«
»Es fügt sich alles wunderbar zusammen.«
»Dein Reden ist voller Rätsel.«
»Schon gut. Ich musste nur gerade an etwas denken, das ich einmal im Schwarzen Tempel von Abbadon gesehen habe.«
»Du bist dort gewesen?«
»Wusstest du das etwa nicht? Ich denke, Drachen…«
»Unbarmherzigkeit ist das Wesen von euch Menschen. Weißt du das, Richter Geschan?«
»Das kommt dir nur so vor.« Yonathan musste schmunzeln. Das riesige Schuppenwesen wurde ihm allmählich sympathisch. »Du kannst es schon daran erkennen, dass du mein Geschenk behalten darfst.«
Garmok blickte zu der Stelle hinüber, an der die schneeweiße
Rose im Felsenboden steckte. Einzelne Gesteinsbrocken waren beim Einsturz der Höhlendecke auf sie heruntergefallen, hatten aber der so zart anmutenden Blüte nichts anhaben können. Als der Drache wieder seine Stimme erhob, klang sie fast sanft.
»Die Rose ist wunderschön. Woher stammt diese Blume?«
Yonathan dachte an die Geschichte Tarikas – so hatte der Name Aschereis, seiner Vorfahrin, auf der Erde gelautet – und an das Pergament mit dem Zeichen der weißen Rose, das er einst in der Bibliothek seines Großvaters in Schottland gefunden hatte.
»Aus einer Welt, die der unsrigen sehr gleicht«, antwortete er schließlich ausweichend.
»Gibt es dort auch
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