Isau, Ralf - Neschan 03
Schar von Kletterwesen gelang an der südwestlichen Mauer der Einfall in die Stadt. Mindestens fünf Dutzend der kleinen, nur in Lumpen gekleideten Geschöpfe nutzten eine Bresche, die ein Hagel von Felsbomben in die Linie der Verteidiger geschlagen hatte. Mit ihren giftigen, scharfen Krallen töteten sie einige kaiserliche Leibgardisten, bevor sie in den engen Gassen der Stadt untertauchten.
Ein leises Räuspern riss Felin aus seiner tiefen Versunkenheit. »Hatte ich nicht befohlen mich nicht zu stören?«, fuhr er den Eindringling an. Sein Gesicht war grau. Er wirkte unendlich müde. Dann erst bemerkte er, dass Baltan neben ihm stand. »Entschuldige. Ich wusste nicht, dass du es bist. Aber ich möchte trotzdem gern mit meinem Bruder allein…«
»Du wirst gebraucht, Felin!«
»Meinst du, das weiß ich nicht!«, brauste Felin auf. Er bedauerte seinen Ausbruch allerdings sogleich wieder und schlug beschämt die Augen nieder.
»Glaub mir«, erwiderte Baltan mit sanfter Stimme, er hatte neben dem Prinzen Platz genommen, »ich kann deinen Schmerz verstehen.« Als Träumer hatte er in seinem mehr als zweihundertjährigen Leben schon zwei Ehefrauen und viele Kinder begraben. Wie alle aus der Gruppe der »Unsrigen«, wie sich die Träumer selbst nannten, stammte auch er ursprünglich von der Erde, hatte aber jede Erinnerung an sein früheres Dasein verloren. Durch die Macht Yehwohs war ihm und seinen Schicksalsgenossen eine sehr lange Lebensspanne auf Neschan zuteil geworden. »Ich bin ein wenig älter als du«, untertrieb er daher jetzt, »und hatte mehr Anlass zum Trauern, als für einen Menschen gut ist.«
Felin blickte wieder auf. »Und wie bist du darüber hinweggekommen?«
»Ich habe mit anderen über die schönen Erinnerungen gesprochen, die ich mit den Verstorbenen verband. Ich habe versucht mich nicht fallen zu lassen, sondern stattdessen Gutes zu tun, anderen Menschen zu helfen.«
Die Gesichter der beiden Männer wandten sich dem Ausgang zu, von dem her plötzlich ein lautes Rauschen zu ihnen drang, wie von einer auffrischenden Brise. Doch das seltsame Spiel des Windes – oder was immer es war – legte sich schnell wieder, sodass Felin an Baltans letzte Äußerung anknüpfte.
»Was willst du mir eigentlich sagen, Baltan, etwa, dass auch ich jetzt etwas Sinnvolleres tun müsste, als nur einfach hier zu sitzen und um meinen Bruder zu trauern?«
Baltan nickte und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Du wirst der neue Kaiser sein. Die Stadt braucht dich jetzt – dringender denn je. Es wird bereits in den Straßen gekämpft. Es sieht ernst aus. Nicht wegen der eingedrungenen Kletterkünstler: Bisher konnten nur wenige von Bar-Hazzats Zwergen in die Stadt gelangen und Bomas’ Grenzpatrouillen wissen, wie sie mit ihnen umzugehen haben. Aber ansonsten steht es schlecht. Die Unterstadt brennt. Auf den Mauerzinnen sterben die Männer wie Fliegen. Fürst Melin-Barodesch lebt nicht mehr…«
»Der Fürst!«
»Ja, Felin. Der Sturm, der über der Stadt tobt, droht alles zunichte zu machen, was in Jahrhunderten aufgebaut wurde.«
»Aber die Schlacht hat doch heute erst begonnen! Und Cedanor ist uneinnehmbar.«
»Keine Festung ist das, Felin. Schon gar nicht, wenn sie ohne den Segen Yehwohs errichtet wurde. Du weißt, dass dein Vater einen unheiligen Pakt mit Temánah geschlossen hatte. Und heute stehen Bar-Hazzats Eintreiber vor der Tür und fordern Zirgis’ Schulden ein.« Baltan hatte viel Nachdruck in seine Worte gelegt. Jetzt holte er tief Luft und fügte hinzu: »Ich bin nicht gekommen, um dir die Trauer zu nehmen – sie steht dir zu. Aber lass mich ihren Schleier wenigstens so weit von deinem Geist heben, dass du den Blick auf die Wirklichkeit wiedergewinnst: Du musst dich jetzt deinen Kämpfern zeigen. Die Nachricht von Bomas’ Tod hat alle niedergeschmettert. Wenn sie dich und das Schwert sehen, finden sie vielleicht neuen Mut und können die Stadt noch etwas länger halten.«
»Um wie viel länger?« Felins Augen blitzten den Kaufmann an, sie hatten die Farbe von Bar-Schevets Stahl.
Baltan hielt dem Blick stand. Er überlegte, ob Felin die volle Wahrheit ertragen konnte. Endlich antwortete er: »Ein paar Stunden vielleicht. Wenn alles gut geht, die kommende Nacht.«
Während Felin sich noch vom Schock dieser Worte erholte, eilte ein Soldat in die Halle. Er trug einen verbeulten Harnisch, schwitzte, war schmutzig und blutete. Ohne sich groß um bestimmte Höflichkeitsformen zu kümmern
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