Isau, Ralf - Neschan 03
Aber sonst geschah nichts. Das Zentrum des Lagers war wie ausgestorben.
Nun kam auch Gimbar mit den Packtieren heran.
»Ist das die Art, wie Ihr Eure Gäste empfangt?«, rief Yonathan noch einmal.
»Yonathan!«, erscholl plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund.
Sein Kopf flog herum. »Yehsir! Du bist es wirklich!«
Er wartete nicht erst, bis Kumi sich überreden ließ, in die Knie zu gehen. Behände sprang er von seinem Reittier und lief auf eine schmale Gestalt zu, die scheinbar nur aus einem weiten, faltenreichen Gewand zu bestehen schien. Der Karawanenführer hatte sich in den vergangenen drei Jahren überhaupt nicht verändert, selbst seine weiße Kleidung schien noch immer dieselbe zu sein – auch wenn sie hier, inmitten der schwarz gekleideten Nomaden, fremd wirkte.
Yehsir entgegnete auf seine gewohnt knappe Art: »Natürlich bin ich es.«
»Es ist schön dich zu sehen, Yehsir.«
»Du bist gewachsen.«
Yonathan lachte. »Du hast dich nicht im Geringsten verändert, mein Freund. Allerdings könntest du deinen Sohn bei Gelegenheit einmal darauf hinweisen, dass man fahrende Händler nicht so erschrecken sollte.«
»War es wirklich so schlimm?«
»Nicht schlimmer, als man es von euch Steppenreitern gewohnt ist«, warf Gimbar ein.
»Gimbar! Es ist wohltuend nach so langer Zeit wieder deine spitze Zunge zu vernehmen.«
»Und es ist schön, endlich einmal wieder deinen Tadel zu hören, Schützender Schatten.«
Die Begrüßung nahm dann nach der Sitte der Steppenreifer noch einige Zeit in Anspruch. Auch fanden sich immer mehr Lagerbewohner vor dem Zelt des Sippenoberhauptes ein; die Nachricht von dem hohen Besuch hatte sich schnell herumgesprochen.
Schließlich beendete Yehsir das allgemeine Vorstellen, Händeschütteln und Allen-Frieden-Wünschen mit einer an Yonathan und Gimbar ausgesprochenen Einladung: »Besucht mich bitte in meinem Zelt. Ich möchte euch Stutenmilch und Fladenbrot anbieten.«
Mit dieser traditionellen Formel der Gastfreundschaft hatte Yehsir es geschafft, auf einen Schlag dem geräuschvollen Getümmel ein Ende zu bereiten. Die schaulustigen Steppenbewohner zerstreuten sich und gaben den Gästen den Weg zu Yehsirs Zelt frei.
»Ich hatte dich nicht so früh erwartet, Yonathan.«
»Du hast ihn erwartet?«, rief Gimbar überrascht dazwischen.
»Ich muss zugeben«, gestand Yonathan, »dass ich mich vorhin über deine Ruhe gewundert habe, als wir uns wiedertrafen, Yehsir. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto logischer erscheint mir jetzt alles.«
Gimbar fühlte sich etwas ausgeschlossen von den Gedankengängen seiner Freunde. Es klang fast gekränkt, als er sagte: »Es gibt auch noch Menschen, deren Genie nicht ganz so weit reicht, um sofort auf alles zu kommen. Vielleicht weiht mich jemand ein?«
»Es ist ganz einfach«, antwortete Yehsir. »Baltan hat mich hierher gesandt, um Yonathan abzupassen. Ich soll dafür sorgen, dass er so schnell wie möglich die Steppen durchquert und dass ihm dabei nichts zustößt. Dann soll ich Baltan umgehend Bericht erstatten.«
»Aber woher wusste Baltan von uns? Und wie konnte er ernsthaft glauben, dass du uns in dieser unendlichen Landschaft finden würdest?«
»Sie ist nur für denjenigen gleichförmig und ohne Orientierungspunkte, der nicht in ihr geboren wurde. So wie Wasser auf ganz bestimmten Bahnen fließt, so gibt es in der Wildnis auch unsichtbare Spuren, denen Mensch und Tier folgen. Wir haben diese Wege, die auf der kürzesten Verbindung zwischen Gan Mischpad und Quirith verlaufen, ständig im Auge.«
»Dann weiß also der ganze Sippenverband von uns?«, erkundigte sich Yonathan besorgt. Er dachte an die Geheimhaltung seiner Mission.
»Nicht wirklich. Sie suchen nach einem jungen, dunkelhaarigen Mann auf einem schneeweißen Lemak.«
»Davon gibt es wahrscheinlich wirklich nicht viele. Aber was hättest du getan, wenn ich Kumi nicht mitgenommen hätte?«
»Wir Steppenbewohner wissen ein gutes Reittier zu schätzen, und während wir vor Jahren die Wüste Mara durchquerten, spürte ich, dass auch zwischen dir und deinem widerspenstigen Lemak ein solch enges Verhältnis entstanden war. Offensichtlich habe ich dich nicht falsch eingeschätzt.«
Die Unterredung der drei Gefährten dauerte noch lange an. Sirma, Yehsirs Tochter, trug bald einige Speisen auf, deren raffinierte Zubereitung, duftendes Aroma und vortrefflicher Geschmack nur schwer zum einfachen Leben der Steppenbewohner in dieser eintönigen Landschaft passen
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