Isau, Ralf - Neschan 03
musste dringend etwas geschehen!
»Gib bitte alle Anweisungen, damit wir morgen sehr früh aufbrechen können«, bat Yonathan den Karawanenführer.
Yehsir nickte. Er hatte die tiefe Besorgnis gespürt, die den Worten des jungen Richters zugrunde lag. Er wandte sich um und verschwand zwischen den Zelten.
»Lass uns doch einmal sehen, was von unserem Gepäck übrig geblieben ist«, schlug Yonathan Gimbar vor.
Während sich beide nach der roten Seide bückten, fragte Gimbar: »Was hast du eigentlich mit den Männern und Frauen angestellt, dass sie so plötzlich von dem Tuch gelassen haben?«
»Ich habe ihnen den Eindruck vermittelt, die Seide wäre glühend heiß und würde ihnen die Hände verbrennen.«
»Das kannst du?« Gimbar erblasste.
Yonathan zuckte mit den Schultern. »Eigentlich war es das Koach, die von Yehwoh verliehene Macht, die diese Dinge bewirkte. Ich habe sie nur gelenkt.«
Gimbar wandte sich wieder der Seide zu. »Wie es aussieht, ist dieses rote Tuch unzerstörbar. Weder das Zerren Dutzender von Menschen noch Yehsirs Dolch konnten ihm etwas anhaben.«
»Was sagtest du doch kürzlich über den Stoff? ›Vielleicht hat er ja noch eine andere Bestimmung.‹ Ich glaube, du hast genau ins Schwarze getroffen.«
»Du meinst, ins Rote!«
Yonathan musste unweigerlich lachen. Anscheinend gab es nichts, was seinem Freund anhaltend die gute Laune verderben konnte. Dann fiel sein Blick auf den länglichen Holzkasten, der einige Ellen weiter im niedergetretenen Steppengras lag. Der Deckel war aufgesprungen, von den drei Rosen Aschereis konnte er nur die weißen Stiele erkennen. Sein Herz verkrampfte sich bei dem Anblick.
Schnell lief er zu der Stelle hin, bückte sich und zog die Stängel aus dem Schmutz. Alle drei Rosen waren unversehrt!
»Wie kann das sein?«, fragte Gimbar verwundert. »Die Blüten müssen doch von mindestens hundert Füßen zertrampelt worden sein, aber sie sind nur ein wenig staubig, sonst nichts.«
Yonathan blies den Staub von den zarten Blumen und lächelte geheimnisvoll. »Eben erst hast du gesehen, wie deine Seide den schlimmsten Torturen standgehalten hat, und trotzdem fragst du mich, wie das sein kann. Die Werkzeuge des Lichts mögen in ihrer Schönheit zwar zerbrechlich wirken, aber sie besitzen offenbar mehr Macht als aller temánahische Stahl.« Und dann fügte er verschwörerisch hinzu: »Aber das mit den Rosen bleibt vorerst unter uns.«
IV.
Das Königreich der Vögel
Der kleine Zug aus neun Pack- und drei Reittieren hatte, gemessen an der Größe der Karawane, einen wirklich bedeutenden Führer an seiner Spitze. Obwohl die Sonne hinter dem Horizont noch mit der Nacht rang, war das ganze Lager bereits auf den Beinen. Jeder wollte Geschan, dem siebten Richter, Gimbar, dem Zweimalgeborenen, und Yehsir, den man auch Bezel, den Schützenden Schatten, nannte, zum Abschied noch einmal zuwinken, manche mit einem schlechten Gewissen.
Sirbar begleitete die drei Gefährten noch ein Stück, dann aber blieb er zurück; er trug nun vorübergehend die Verantwortung für die Gemeinschaft.
»Mein Bruder wird nicht gerade begeistert sein, wenn er ins Lager zurückkommt und erfährt, was sich in der Zwischenzeit zugetragen hat«, bemerkte Yehsir schmunzelnd, während er seinem Rappen den Hals tätschelte.
Gimbar lachte auf. »Bis dahin sind wir weit weg!«
»Werden wir auf gerader Strecke nach Quirith reisen?«, fragte Yonathan den Karawanenführer.
»Nicht direkt. Wir halten uns zunächst ein wenig weiter nach Osten. Am Fuß des Großen Walls gibt es mehr Deckung. Dort werden wir einen Zufluss des Cedan entlang nach Norden reiten, bis wir den Eingang zum Sternental erreichen, an dessen Ende Quirith liegt.«
Die nächsten zwei Wochen verliefen ohne nennenswerte Zwischenfälle. Gemäß Yehsirs Plan hielt die kleine Gemeinschaft stetig auf den fernen Gebirgszug zu, den Yonathan nur aus Erzählungen und der umfangreichen Bibliothek Goels kannte. Das Squak-Reich lag eingebettet in den Bergen des Großen Walls, nur wenige Ausläufer von ihm reichten bis in die Niederungen hinab; östlich von Quirith gab es aber einen etwas mehr als tausend Meilen langen, doch nur vierhundert Meilen breiten Streifen fruchtbaren Ackerlandes, der die Kornkammer des Vogelreiches darstellte.
Der Frühling hielt mittlerweile auch in der Steppe Einzug. Am Tag spendete die Sonne angenehme Wärme und selbst die kalten Nächte wurden allmählich erträglicher. Zum Braun des Wintergrases gesellten
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