Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Isau, Ralf - Neschan 03

Titel: Isau, Ralf - Neschan 03 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lied der Befreiung Neschans Das
Vom Netzwerk:
der Sonne – und fuhr auf die Seide nieder. Die scharfe Klinge traf das rote Tuch genau in der Mitte zwischen den ziehenden Parteien. Ein jäher Sturz aller Beteiligten schien unabwendbar. Aber nichts geschah.
    Yehsirs Schneide hatte zwar den Stoff berührt, war aber daran abgeglitten. Der Karawanenführer schaute Yonathan ratlos an.
    Die beiden um den Stoff kämpfenden Parteien waren von der ganzen Aktion sichtlich unbeeindruckt. Sie zogen und zerrten noch immer, riefen sich unfeine Kosenamen zu und trampelten in den Resten von Yonathans und Gimbars Reisegepäck herum.
    »Lass es mich versuchen!«, schrie Yonathan, damit Yehsir ihn verstehen konnte. Der stellvertretende Sippenführer trat einen Schritt zurück.
    Yonathan umfasste den Stab Haschevet mit beiden Händen, schloss die Augen und konzentrierte sich. Noch nie hatte er etwas Ähnliches versucht. Er rief sich ein Bild in den Sinn: Flammen, glühenden Stahl, unerträgliche Hitze. Dann ließ er es los.
    Als er die Augen wieder öffnete, hatte die Projektion bereits ihre Kraft entfaltet: Die rasenden Nomaden begannen wie unter Schmerzen zu schreien und starrten entsetzt auf die karminrote Seide, von der sie hastig ihre Hände rissen, als würde sie lichterloh brennen. Selbst als das Tuch schon lange im Staub lag, hüpften die Plünderer noch jammernd umher, pusteten sich in die Hände oder wedelten mit den Armen in der Luft.
    »Ich finde, du übertreibst ein wenig«, kritisierte Gimbar.
    »Es war das erste Mal, dass ich die Projektion auf so viele Personen gleichzeitig angewandt habe. Deshalb war ich mir nicht sicher, wie ich sie dosieren muss«, entschuldigte sich Yonathan mit einem schiefen Lächeln, wurde aber sogleich wieder ernst. »Allerdings glaube ich, dass sie eine solche Lektion verdient haben. Bei allem Verständnis für ihre Neugier, aber das ging wirklich zu weit!«
    »Er hat Recht«, stimmte Yehsir zu. »Es ist eine Schande für die ganze Sippengemeinschaft. Nie hat es bei uns eine derartige Missachtung des Gesetzes der Gastfreundschaft gegeben!«
    Yonathan war nicht entgangen, dass Yehsir sich für das Geschehene verantwortlich fühlte, auch wenn ihn selbst keine Schuld traf. Deshalb beeilte er sich ihm zu versichern: »Ich trage euch nichts nach, deiner Gemeinschaft nicht und dir, Yehsir, schon gar nicht. Aber das Gesetz der Gastfreundschaft sollte überall ernst genommen werden. Auch Neschans Richter haben ihre Wichtigkeit immer wieder betont, zusammen mit der Bescheidenheit und Friedfertigkeit. Diese Eigenschaften lassen sich mit Habsucht, Neid und Streit kaum vereinbaren. Man könnte fast glauben, Bar-Hazzat hätte…« Yonathan hielt kurz inne. »Du sagtest vorhin, es hätte nie einen solchen Vorfall in eurer Mitte gegeben, Yehsir?«
    Der Nomade nickte langsam; er schien zu ahnen, worauf Yonathan hinauswollte.
    »Sagen dir die sechs Augen Bar-Hazzats etwas?«
    Yehsir nickte abermals. »Ich habe schon davon gehört. Im Sepher Schophetim gibt es einige Andeutungen über sie.«
    »Glaubst du, Bar-Hazzats Einfluss hat etwas mit dem Benehmen dieser Leute zu tun?«, erriet Gimbar Yonathans Gedanken.
    »Die Glaubensgrundsätze der schwarzen Priester Temánahs sind nach Goels Beschreibung sehr einfach: ›Tu, was du willst. Nur du bist wichtig. Der Stärkere siegt immer über den Schwachen. Warum sich nicht auf die Seite der Gewinner stellen?‹ Meint ihr nicht, das, was wir hier eben erlebt haben, entspricht genau diesem Geist?«
    Yehsir und Gimbar blickten sich schweigend an.
    »Hat es in eurem Lager in der letzten Zeit Besuche temánahischer Priester gegeben?«, hakte Yonathan nach.
    Yehsir schüttelte den Kopf. »Nein. Zu uns verirrt sich so gut wie nie ein Fremder. Aber ich habe während meiner Reise hierher einiges über die bleichhäutigen Abgesandten des Südreiches gehört. Sie scheinen in letzter Zeit immer umtriebiger zu werden.«
    Yonathan stützte sich nachdenklich auf Haschevet. Seine Vermutung schien sich zu bestätigen. Die sechs Augen Bar-Hazzats begannen zu erwachen und wie es aussah, ging von ihnen ein viel gefährlicherer Einfluss aus als von den Priestern Temánahs. Die Schwarzgewandeten bereiteten mit ihren Lehren zwar den Boden, aber die Augen Bar-Hazzats schickten den eigentlichen Samen des Verderbens aus, ein schleichendes Gift, das der Unachtsame erst bemerkte, wenn es seine tödliche Wirkung bereits entfaltet hatte. Nur stete Wachsamkeit und unbedingtes Festhalten am Guten konnten das Vordringen der Bosheit verhindern. Es

Weitere Kostenlose Bücher