Isau, Ralf - Neschan 03
der wolkenverhangenen Grenze zum Garten der Weisheit. Eine Wand aus Wind, Wolken und Wüstensand trennte meine Gefährten und mich von Sethur und seinen Häschern. Wir konnten sicher in den Grenznebel des Gartens entkommen.
Goel, der sechste Richter, erwartete uns bereits und eröffnete mir, dass ich selbst dazu auserkoren sei, Neschan als siebter Richter zu dienen. Ich hätte die Wahl zwischen zwei Leben: einem irdischen, frei von den Fesseln meiner Lähmung, und einem auf Neschan, mit der Bürde der Weltentaufe auf meinen Schultern. Eine schwere Aufgabe bot er mir an. Und ich habe sie angenommen.
I.
Die Nachricht
Die Kuh schwebte sanft über dem Wasser. Ihre Schwanzspitze nahm ein erfrischendes Morgenbad. Noch ganz im Schlaf versunken schien sie nichts von dem unfreiwilligen »Ausflug« zu bemerken, der sie von ihrem angestammten Platz auf der Weide bis hierher über den See geführt hatte. Der Himmel strahlte in einem makellosen Blau an diesem herrlichen Frühlingsmorgen und die Sonne brach sich in Abertausenden von Reflexen auf dem kleinen Gewässer.
Yonathan saß kaum einen Steinwurf weit entfernt am Ufer und beobachtete die Szene. Auf seinen Oberschenkeln lag ein hölzerner Stab mit einem goldenen Knauf.
Er lächelte zufrieden. Eigentlich hatte er nur ausprobieren wollen, wie gut er bereits die Kraft der Bewegung kontrollieren konnte. Diese Fähigkeit war nur eine der zahlreichen Facetten des Koach, jener Macht, die vom Stab Haschevet ausging und ständiger Übung bedurfte, damit sie vom Träger des Stabes gezielt und richtig dosiert eingesetzt werden konnte. Yonathan hatte mehr als drei Jahre benötigt, um sich aus den anfangs eher zufälligen Wirkungen des Koach einen sechsten Sinn zu schaffen, der einigermaßen seinem Willen gehorchte. Selbst noch nach dieser Zeit erforderte der kontrollierte Einsatz der Macht seine ganze Aufmerksamkeit. Kein Wunder also, dass er die Person hinter sich nicht bemerkt hatte.
»Yonathan! Hast du nur Unsinn im Kopf? Die arme Kuh wird sich zu Tode ängstigen.«
Der Gescholtene zog den Kopf ein und fuhr erschrocken herum. Während in seinem Rücken ein lautes Platschen zu hören war, erkannte er die Besitzerin der energischen Stimme.
Die Stachelwortspuckerin! Seit Yonathan das zierliche Mädchen mit den kohlrabenschwarzen Haaren vor über drei Jahren kennen gelernt hatte, waren sie enge Freunde geworden. Vielleicht sogar mehr als das. Er war sich da nie so ganz sicher. Bithya jedenfalls schien jede Gelegenheit zu nutzen ihn mit ihren spitzen Bemerkungen aus der Fassung zu bringen.
»Sie hat überhaupt nichts mitbekommen, sie schlief ja noch«, versuchte er sich zu verteidigen.
»Jetzt ist sie aber wach und sieht ziemlich verschreckt aus«, erwiderte Bithya. Sie hatte beide Hände in die Seiten gestemmt und sah für ihre Größe ausgesprochen bedrohlich aus.
Yonathans Augen wanderten zurück zum Wasser, dem gerade eine empörte und vor Nässe triefende Kuh entstieg. Mit einem vorwurfsvollen Blick in seine Richtung machte sie sich eilig davon.
Er wendete sich wieder Bithya zu. Selbst wenn sie wütend ist, sieht sie noch schön aus, dachte er. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Gurgi auf ihrer Schulter herumturnte. Der eichhörnchenähnliche Masch-Masch, den Yonathan einst aus dem Verborgenen Land mitgebracht hatte, erlag in letzter Zeit immer häufiger den kulinarischen Bestechungsversuchen des Mädchens. Gurgi schien die Unterhaltung der beiden Menschen mit großem Interesse zu verfolgen.
»Wenn du mich nicht erschreckt hättest, wäre gar nichts passiert«, meinte Yonathan.
»Wer weiß, was du mit dem Tier noch vorhattest.« Einen Moment lang funkelten Bithyas Augen wie zwei dunkle Blutsteine in der Sonne. Dann holte sie tief Luft und fuhr fort: »Du benimmst dich manchmal wie ein kleiner Junge, Yonathan. Eigentlich solltest du inzwischen wissen, dass man Yehwohs Macht nicht zum Spaß oder aus Eigennutz gebrauchen darf.«
»Das weiß ich sehr wohl. Du vergisst, dass ich Geschan bin, der siebte Richter.«
»Nur gut, dass die Bewohner von Neschan ihrem neuen Richter noch nicht dabei zusehen können, wie er wehrlose Kühe in Angst und Schrecken versetzt. Es würde Euch einiges an Respekt kosten, ehrwürdiger Geschan.«
Offensichtlich war Bithya an diesem Morgen besonders angriffslustig. Und das verwirrte Yonathan. In letzter Zeit hatte er geglaubt, die Gefühle, die er für sie empfand, würden von ihr, wenn auch zaghaft, erwidert werden. Doch heute…?
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