Isau, Ralf - Neschan 03
löste vorsichtig den rechten Arm der Braut aus der Umklammerung und legte die willenlose Hand in seine.
Yonathan konzentrierte sich auf den Geist des Mädchens, das jetzt in tiefes Schweigen verfallen war.
Zuerst konnte er gar nichts erkennen. Er sah nur einen Strudel dunkler Bilder, von denen keines lange genug verharrte, um seinen Inhalt preiszugeben. Er strengte sich noch mehr an, bemühte sich, das Koach in das Bewusstsein des Mädchens fließen zu lassen, um damit eine Art von Gegenstrom zu erzeugen. Allmählich verlangsamte sich der Wirbel. Yonathan begann einzelne Szenen wahrzunehmen; zuerst wenige, dann immer mehr. Aus ihnen sprachen Hass, Gewalt und Schmerz. Vor allem der Schmerz, die Qual des Verlustes und des völligen Nichtverstehens dessen, was geschehen war, hatten ihr schließlich den Verstand geraubt.
Yonathan wusste, dass der Geist des Mädchens wieder im Wahnsinn versinken würde, wenn er ihn jetzt losließ. Also entschied er sich für den schwersten Weg: Er nahm ihren Schmerz auf sich.
Der Stab in seiner Hand schien zu brennen. Ja, Yonathan wusste, dass er brannte. Er fühlte sich fast an wie ein glühendes Eisen, das man auf die Wunde eines Schlangenbisses drückt, damit sie sich nicht entzünden kann. Wie von fern drangen die Worte seines Ziehvaters zu ihm: »Unterschätze die Erinnerung nicht, Yonathan. Sie ist wie ein zweischneidiges Schwert.« Aber nur dadurch, dass er diesem Mädchen seine schrecklichen Erinnerungen nahm, sie für immer tief in seinem Gedächtnis verwahrte, konnte er ihr helfen.
»Sie kommt zu sich!« Yonathan vernahm undeutlich Yaminas Stimme.
Er hob die Lider, die er unter der großen Anstrengung zusammengekniffen hatte, und schaute in das Gesicht der Braut. Sie sah verunsichert aus, aber tatsächlich: Ihre Augen schienen jetzt klar zu sein.
»Wo bin ich?«, waren die ersten Worte, die das Mädchen hervorbrachte.
Yamina blickte Yonathan verdutzt und fragend an.
»Sie hat vergessen, was geschehen ist«, sagte Yonathan, noch bevor Yamina genauer nachhaken konnte, wie das alles vor sich gegangen war. »Kommt, lasst uns endlich diesem unseligen Ort den Rücken kehren.«
»Ich will endlich wissen, wer du bist!« Yamina hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt und erinnerte Yonathan in dieser Haltung sehr an Bithya, wenn sie einen ihrer Ausbrüche hatte.
»Aber ich habe dir doch gesagt, dass ich…«
»›… ein Bote des Lichts bin‹«, äffte Yamina Yonathans frühere Antwort nach. »Das glaube ich dir, Yonathan.« Sie klang nun etwas milder. »Wer so wunderbare Dinge vollbringt wie du, der kann kein Diener der Finsternis sein. Aber es ist trotzdem nicht recht, dass du mich behandelst wie ein unwissendes Kind.«
Yonathan warf Gimbar einen hilflosen Blick zu. Doch der grinste nur und zuckte mit den Schultern. »Du brauchst mich gar nicht so anzusehen, Yonathan. Die Suppe hast du dir selbst eingebrockt.«
»Vielen Dank. Du bist mir wirklich eine große Hilfe.«
»Keine Ursache. Dazu sind Freunde doch da.«
»Du bist auch nicht besser als er«, fuhr Yamina dazwischen. Gimbar zog erschrocken den Kopf ein. »Ihr beide seid zwei ausgefuchste Halunken, zwei liebe zwar, aber eben doch nur Halunken.«
»Yamina«, begann Yonathan noch einmal eindringlich. »Es ist zu deinem eigenen Besten. Ich verspreche dir, dass du alles erfahren wirst. Aber nicht jetzt.«
»Wann dann?«
Yonathan holte tief Luft. »Sagen wir in einem Monat. Heute haben wir den ersten Tag des Ab.«
»Ich soll noch bis zum ersten Elul mit euch reiten und nicht wissen, was ihr beide im Schilde führt?«
»Ich möchte nicht, dass es dir so ergeht wie dem Mädchen.«
Yamina schluckte. Ihre Augen sprangen zwischen dem Mädchen, das wieder eingeschlafen war, und Yonathan hin und her.
»Bar-Hazzat wird mit allen Mitteln versuchen unsere Pläne zu durchkreuzen«, fuhr Yonathan schnell fort. »Jeder, der sie kennt und billigt, hat ihn zum Feind. Möchtest du Bar-Hazzat als Feind haben, Yamina?«
Der Widerspruchsgeist der jungen Frau ließ allmählich nach. »Du glaubst wirklich, dass Bar-Hazzat etwas mit dem Gemetzel dort drüben zu tun hat?«
Yonathan nickte. »Ich bin fest davon überzeugt.«
Das war er tatsächlich, auch wenn er glaubte, dass der dunkle Herrscher die beiden Nomadenstämme nicht persönlich gegeneinander aufgehetzt hatte. Es musste mit dem Auge zu tun haben, dem sie täglich näher kamen. Von ihm ging das Unheil aus.
Er konnte sich noch sehr gut erinnern, wie die Angehörigen von
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