Isau, Ralf - Neschan 03
nicht einmal ganz verdunstet.«
»Dann lasst uns nachschauen!« Und er drückte seinem Grauen die Fersen in die Weichen.
Ohne den Rauch hätten sie das Lager wahrscheinlich übersehen. Es lag in einer weiten Senke und bot ein Bild unglaublicher Verwüstung. Kein einziges der großen Nomadenzelte stand noch aufrecht an seinem Platz. Die meisten waren abgebrannt, die restlichen niedergerissen. Überall lagen Tote.
Nie zuvor in seinem Leben hatte Yonathan so viele Leichen gesehen! Messer, Pfeile und Lanzen ragten aus leblosen Körpern. Entsetzliche Verstümmelungen machten ihn schwindlig. Ein furchtbarer Kampf musste hier stattgefunden haben. Halb betäubt ließ sich Yonathan vom Pferd gleiten, tappte fassungslos zwischen den Überresten der Zelte umher und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihn zu übermannen drohte. Selbst Frauen und Kinder hatten die Meuchler nicht verschont.
Allmählich gewann der Zorn in ihm die Oberhand, verdrängte das Bedürfnis sich zu übergeben. Wie Hohn hallten in seinem Geist die in einer anderen Welt gesprochenen Worte seines sterbenden Vaters: »Achte stets alles Leben und vergiss vor allem nicht die Liebe zu deinem Schöpfer.« Wer das hier getan hatte, kannte keines dieser beiden Gebote. »Wer kann nur so etwas anrichten?«, murmelte er erschüttert.
»Das waren sie selbst«, antwortete eine rauchige Stimme ganz in seiner Nähe. Er drehte sich um. Yamina stand neben ihm. Das Nomadenmädchen weinte nicht, sein Gesicht war aschgrau geworden und wirkte versteinert.
»Wie meinst du das?«
Yamina ließ die Augen über Trümmer und Leichen schweifen, bevor sie weitersprach. »Was du hier siehst, gehörte zu zwei Lagern, zwei verschiedenen Sippen. Sie haben sich gegenseitig umgebracht.«
»Aber warum?«, entfuhr es Yonathan. Hilflos ballte er die Fäuste.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Yamina. »Sie haben ihre Zelte nebeneinander aufgeschlagen – ganz friedlich. Was dann geschah, ist so ungeheuerlich… Noch nie hat es so etwas unter Ostleuten gegeben.«
»Ich glaube, ich höre etwas!« Gimbars Stimme kam aus dem Hintergrund.
Die beiden eilten zu ihm. »Wo?«, riefen sie wie aus einem Munde.
»Pst! Nicht so laut.«
Jetzt lauschten alle drei. Eine Weile lang vernahmen sie nur das Geräusch des Steppenwindes. Yonathan bemühte Haschevet, um seine Sinne zu schärfen. Und tatsächlich! Plötzlich hörte er das leise Wimmern.
»Es kommt von dort drüben«, stieß er hastig hervor und verschwand zwischen zwei Zelten. Yamina und Gimbar eilten ihm nach.
Sie fanden das Mädchen am Eingang eines besonders großen, nur halb zerstörten Zeltes.
»Eine Braut!« Yamina war mindestens ebenso überrascht wie ihre Begleiter. Doch sie hatte sich schnell wieder gefangen. Neben der jungen Braut kniete sie nieder, um zu sehen, wie sie ihr helfen konnte. Das Mädchen trug viel goldenen Schmuck und war mit einem ultramarinblauen Gewand bekleidet, das kostbare, bunte Stickereien zierten. Es schien die drei gar nicht zu bemerken, sondern starrte nur leer vor sich hin.
Abgesehen von dem prächtigen Hochzeitsgewand bot das Mädchen einen bemitleidenswerten Anblick. Es saß auf seinen untergeschlagenen Beinen und schaukelte mit dem Oberkörper unablässig vor und zurück. Die Arme hatte es, als wäre ihm kalt, um den Leib geschlungen und aus seinem Mund drangen seltsame Laute: ein leises Wimmern, ab und an auch ein Singsang, der wie ein Kinderlied klang. Es schien, als habe sich sein Geist verdunkelt.
»Die Ärmste hat alles mit angesehen«, sagte Yamina und streichelte dem Mädchen zärtlich über das mit bunten Bändern geschmückte Haar.
»Sie hat offenbar den Verstand verloren«, meinte Gimbar ernst.
»Wir können sie nicht hier lassen, wir…«
»Yamina!«, unterbrach Gimbar das Nomadenmädchen streng. »Sprich erst gar nicht aus, was du denkst. Es ist unmöglich sie mitzunehmen. Unsere Aufgabe ist auch so schon schwer genug…«
»Ihr und eure Aufgabe!« Yamina funkelte ihre Begleiter an.
»Ich habe diese Geheimnistuerei allmählich satt! Sie ist krank und wird sterben, wenn wir sie hier lassen. Was kann wichtiger sein als das Leben eines Menschen?«
»Vielleicht das Leben einer ganzen Welt«, erwiderte Gimbar.
Yamina schnappte nach Luft. Und ehe sie noch etwas vorbringen konnte, schaltete sich Yonathan ein.
»Das Mädchen ist nicht krank«, sagte er sanft.
Die beiden blickten ihn entgeistert an.
»Gib mir ihre Hand, Yamina«, bat Yonathan und streckte die Rechte aus.
Yamina
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