Isau, Ralf - Neschan 03
Wächter des Auges. Wir sollten also nicht allzu viel Entgegenkommen von ihm erwarten.«
Am nächsten Morgen ging Yonathan noch vor Sonnenaufgang allein zum Waldrand. Von den Bäumen ging eine sonderbare Ruhe aus. Das Dunkel aus Ästen, Blättern und Nadeln war im fahlen Licht der frühen Stunde so gut wie undurchdringlich. Yonathan sprach ein stilles Gebet. In der letzten Woche hatte er daraus viel Kraft geschöpft. Der Wettstreit mit San-Yahib, das Misstrauen der Ostleute, der Einfluss des Auges – all das zehrte an seinen Reserven. Und nun wagte er sich mit dreiundzwanzig Begleitern sogar in die unmittelbare Nähe des Auges, in den Bannkreis des dunklen Herrschers.
Als er sich wieder dem Lager zuwandte, war das Netz gewoben. Yonathan hatte das Koach benutzt, um einen Schirm über sich und seine Gefährten zu spannen, ein Tarnnetz. Aber dieses Netz war von übernatürlicher Beschaffenheit, geknüpft aus den Gaben des Gefühls, der Projektion und der Heilung, schützte es den Geist seiner Gefährten vor dem lähmenden Einfluss des Auges. Gleichzeitig, so hoffte Yonathan, bewahrte es die Gemeinschaft auch vor frühzeitiger Entdeckung. Die Reiter und Pferde waren nicht wirklich unsichtbar, aber so, wie sich Yonathans Dolch jedem forschenden Blick entzog, würden auch die Menschen und ihre Tiere nahezu völlig mit dem Großen Wald verschmelzen.
Das Problem mit diesem »Tarnnetz« war nur, dass es von Yonathans Geist ständig aufrechterhalten werden musste. Das erforderte Kraft. Er besaß inzwischen genug Erfahrung im Lenken des Koach, um den Schutz selbst im Schlaf gewährleisten zu können. Aber hatte er auch genügend Ausdauer, um es über mehrere Tage hinweg zu tun?
Nach dem Frühstück bahnten sich die Hufe der Pferde ihren Weg in das dichte Unterholz. Die schwüle Luft erschwerte das Atmen. Gimbar warf besorgte Blicke in die dichten Schatten unter den Baumriesen. Den Waldboden bedeckte ein Schleier zarten Nebels, den die Pferde mit jedem Tritt aufwirbelten. Dennoch schien er die Geräusche ihrer Hufe fast völlig zu verschlucken. Der Große Wald war ein stiller Ort.
Selbst auf die Tiere übertrug sich die sonderbare Stimmung. Kaum einmal, dass ein Pferd schnaubte. Die sonst so quirligen Steppenhengste behielten von sich aus eine vorsichtige und ruhige Gangart bei, genauso wie Yonathans Grauer und Gimbars Fuchs. Von den Bewohnern dieser endlosen grünen Säulenhalle war nichts zu hören, geschweige denn zu sehen. Aber sie existierten. Spuren verrieten, dass es sie gab.
Nach etwa einer Stunde kehrte Leschem von einem Erkundungsgang zurück und führte die Gruppe auf einen Wildwechsel, der ein besseres Vorwärtskommen ermöglichte. Bald traten auch die Bäume weiter auseinander, die Sonne schleuderte gleißende Lichtspeere durch das Blätterdach und plötzlich war der Nebel verschwunden.
Vereinzelt machten sich jetzt sogar Tiere bemerkbar: Mehrmals hallten Vogelstimmen wie irres Gelächter durch den Wald, Insekten – gierige Blutsauger – unternahmen gezielte Angriffe gegen die schwitzenden Eindringlinge und einmal trottete ein Bär nur einen Speerwurf weit vor Leschem über den Weg.
Die allgemeine Stimmung hob sich ein wenig, ohne gleich in Übermut umzuschlagen. In der Karawane der Drachenjäger konzentrierte sich jeder auf den Weg oder beobachtete die nähere Umgebung. Yonathans unsichtbarer Schild wirkte. Als zuverlässiger Gradmesser dafür erwies sich Gimbars Gesicht, in dem die anfängliche Verzagtheit inzwischen einer grimmigen Entschlossenheit gewichen war.
Gegen Abend wurde das Lager in der Nähe eines Sees aufgeschlagen. Während einige Ostleute sich um die Pferde kümmerten, suchten andere am Seeufer nach Weiden. Sie hatten den Auftrag geeignete Ruten zu schneiden. Später gäbe es keine Gelegenheit mehr dazu, betonte Leschem.
»Hier beginnt das Tausend-Seen-Land«, erklärte der Fährtensucher.
»Wie weit ist es noch bis zum Akeldama-See?«, wollte Yonathan wissen.
Leschem überlegte kurz. »Allein könnte man es vielleicht in einem Tag schaffen. Aber wir müssen vorsichtig sein. Ich schätze, zwei Tage werden wir schon benötigen.«
Yonathan nickte. »Du bist ein guter Führer, Leschem. Wir sollten wirklich mit aller Vorsicht vorgehen. Bestimme du das Tempo.«
»Euer Vertrauen ehrt mich, Richter.«
»Du bist dieser Ehre würdig, Leschem. Und übrigens, nenn mich nicht immer Richter. Sag Yonathan oder: wenn du willst, Geschan.«
»Wie Ihr wollt, Richter Geschan.«
Yonathan seufzte und
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