Isau, Ralf - Neschan 03
Leschem widmete sich wieder dem Aufbau des Lagers.
Der zweite Tag im Großen Wald führte die Reiter an mehreren Seen vorbei. Manche waren nur bessere Tümpel, andere maßen dagegen mindestens zwei oder drei Meilen im Durchmesser. Das Gelände war hier offener und die Luft nicht ganz so drückend. Abgesehen von einigen kurzen Pausen, die den Pferden Gelegenheit zum Saufen und den Reitern zum Beratschlagen gaben, kam man zügig voran.
Als die Sonne sich dem Horizont näherte, trat eine unheimliche Veränderung ein: Es sah aus, als würde der Wald sterben. Zuerst waren es nur vereinzelte Stämme, die grau und blattlos zwischen ihren grünen Brüdern standen. Dann aber nahm die Zahl der grauen Riesen immer mehr zu und bald bestimmten nur noch kahle Stämme das Bild.
»Was ist hier geschehen?«, flüsterte Gimbar. »Ein Waldbrand?«
»Das könnte man denken«, gab Sandai zurück. »Leschem erzählte einmal, der Drache habe die Bäume getötet.«
»Kann er Feuer spucken?«
»Darüber hat sich Leschem ausgeschwiegen. Vielleicht vernichtete auch der Kot des Untiers alles Leben.«
»Ich schätze, dass eine Absicht hinter diesem Baumsterben steckt«, merkte Yonathan an. Er hatte in den vergangenen Tagen nicht viel gesagt – das »Tarnnetz« hielt ihn beschäftigt.
»Meinst du, der Drache findet Gefallen daran, Bäume umzubringen?« Gimbar klang wenig überzeugt.
»Nein. Aber dieser Wald bietet kaum Deckung. Vielleicht ist das beabsichtigt. So lässt sich die Gegend rund um seinen Horst besser überwachen.«
Gerade kam Leschem von der Spitze des Zuges zurück und berichtete: »Die nächsten Meilen gibt es kein sicheres Versteck mehr. Der ganze Wald ist dort tot. Kein Laut ist zu hören, nicht einmal das Summen einer Mücke.«
»Was schlägst du vor?«, fragte Yonathan.
»Wir sollten hier unser Lager aufschlagen und warten, bis es dunkel wird. Der lichte Baumbestand hat auch einen Vorteil: Wir können bei Nacht weiterziehen. Bald haben wir Vollmond und der Himmel ist klar. Die Sicht wird also ausreichend sein.«
»Können wir denn die Strecke bis zum Akeldama-See in einer Nacht bewältigen?«
»Ich glaube, wir könnten es schaffen, ja.«
»Und was machen wir dann?«, erkundigte sich Gimbar. »Ich meine, direkt unter dem Horst des Drachen werden wir eine weithin sichtbare Beute sein, wenn erst die Sonne aufgegangen ist.«
»Beim See gibt es einige Felsen. Mit den Zeltplanen müsste es uns gelingen dem Blick des Drachen zu entgehen. Unter den Planen verborgen können wir dann ein Boot zusammensetzen, um auf die Insel zu gelangen.«
»Dann machen wir es so«, entschied Yonathan. »Allerdings schlage ich vor, dass zwölf Männer als Nachhut hier bleiben und sich im dichten Wald verstecken. Wenn es mir gelingt den Drachen zu bezwingen und das Auge Bar-Hazzats zu zerstören, dann können sie zum See nachkommen.«
»Und woher sollen sie wissen, dass du es geschafft hast?«, wollte Sandai Yublesch-Khansib wissen.
Yonathan blickte ihm fest ins Gesicht. »Sie werden es wissen, Sandai. Glaube mir. Sie werden es wissen.«
Als der Mond aufgegangen war, brachen die neun verbliebenen Ostmänner, Yonathan, Gimbar und Yamina auf. Sie hatten nur wenig geruht und der Ritt durch den abgestorbenen Wald zerrte schon bald an ihren Nerven. Die kahlen Stämme ragten wie die bleichen Gebeine eines riesigen Tieres aus dem Waldboden auf, das silberne Licht des Mondes verstärkte noch diesen Eindruck. Die Drachenjäger bewegten sich wie im Traum durch die unwirkliche Landschaft und hofften inständig, der Drache möge nicht ausgerechnet in dieser Nacht über seinem südlichen Vorgarten spazieren fliegen.
Niemand sprach ein Wort. Immer wieder blickten die Reiter nach oben, aber es zeigte sich kein geflügeltes Wesen. Die Stille war beängstigend, unheimlicher sogar als beim Betreten des Großen Waldes vor zwei Tagen. In jedem Wald gab es Geräusche, waren Tierstimmen zu hören, knackten Äste oder der Wind fuhr raschelnd durch die Baumkronen. Doch hier fehlte dies alles.
Endlich – im Osten zeigte sich bereits das erste matte Licht des neuen Tages – wurde ein heller Schimmer zwischen den grauen Stämmen sichtbar.
»Der Akeldama-See«, flüsterte Leschem. »Wir müssen uns jetzt etwas mehr links halten.«
Leschem bedeutete den Reitern von ihren Pferden abzusteigen. Jeder wusste, was zu tun war. Schnell wurden aus dem Gepäck alte Lumpen hervorgezogen und um die Hufe der Tiere gebunden. Dann setzte der Zug lautlos seinen Weg
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