Isau, Ralf - Neschan 03
Richter Neschans war, führte Lan-Khansib die Sippe unserer Vorväter. Eines Tages durchstreifte Yehpas die Ostregion und kam auch in unser Lager. Zunächst verriet er nicht seine wahre Identität, aber dann befiel eine todbringende Krankheit den Lieblingssklaven des Ehrwürdigen Khans. Der Sklave hatte einen blutigen Auswurf und es ging mit ihm zu Ende. Eines Morgens lag er tot in seinem Zelt und Lan-Khansib trauerte sehr. ›Jeden würde ich zum Fürsten machen neben mir, der mir diesen treuen Menschen wiederbrächte ‹, klagte er. Seine Trauer rührte Yehpas, den Richter, so sehr, dass er den Toten besuchte. Er beugte sich über ihn, als wolle er einen Schlafenden sanft wecken. Niemand weiß, ob es Absicht war, aber der Knauf des Stabes Haschevet berührte die Brust des verstorbenen Sklaven. Gleich darauf kam neues Leben in ihn, er öffnete die Augen, stand auf und diente seinem Herrn, als sei nichts geschehen. Das Sepher Schophetim erzählt wenig über diese Geschichte, aber in unserer Sippe ist sie fest verankert, weil noch immer einige das Mal des Stabes auf ihrer Brust tragen: das Gesicht eines Adlers.«
Der Alte öffnete mit zittrigen Fingern die Bänder seines Obergewandes und zog den Halsausschnitt so weit auseinander, dass es alle sehen konnten: Ein blaues Mal, das Profil eines Adlers, prangte auf seiner Brust. Obwohl jeder im Stamm dieses Zeichen kannte, drehte er sich doch einmal im Kreis, um es allen in Erinnerung zu bringen.
Yonathan und sein Freund waren vollkommen überrascht. Das Mal glich demjenigen, das Haschevet einst in Gimbars Haut gebrannt und das dieser bei seiner dramatischen Schauspieleinlage ahnungslos offen gelegt hatte, wie ein Zwilling dem anderen.
Der Vater des Khans beendete seine Runde und fuhr fort: »Auch mein Erstgeborener, Yublesch, trägt das Adlermal. Und sogar Yamina, eine Frau. Jeder von euch kennt die Worte der alten Verheißung, die Yehpas einst an unsere Vorväter richtete: ›Höret nun!‹, verkündete er. ›Haschevet hat heute in eurer Sippe ein Zeichen gesetzt. Lan-Khansib versprach jedem, der ihm seinen Sklaven zurückgibt, einen Ehrenplatz an seiner Seite. Doch ich will diese Stellung nicht für mich beanspruchen. Der, dessen Treue euren Khan derart rührte, soll den Segen selbst empfangen, und der Erstgeborene dieses Sklaven soll unter euch ein Fürst sein. Ebenso jeder Spätere, der zuerst einen Mutterschoß öffnet. Das Mal Haschevets sei euch eine Erinnerung daran. Eurer Sippe ist es von diesem Tage an aufgegeben den Richtern Neschans in der Not zu dienen. Und siehe, die Stunde kommt, da wird ein Fremder in eure Mitte treten. Auch er wird das Mal Haschevets tragen. Behandelt ihn wie euren eigenen Bruder, denn wisst, dass dies ein Tag der Bewährung ist. Er wird eine wichtige Aufgabe in eure Herzen pflanzen. Wenn ihr diesen jungen Spross verdorren lasst, wird die Welt Neschan in eurer eigenen Schmach ersticken.
Wenn ihr ihn jedoch hegt und pflegt und ihn stützt, dann wird euer Name für immer in das Gedenkbuch Yehwohs eingeschrieben sein.‹«
Tosender Beifall brandete auf. Yonathan und Gimbar blickten sich ergriffen an. Etliche riefen: »Hört, hört!« Freudenpfiffe schrillten durch die Luft. Endlich gelang es dem Sippenältesten die Arme so hoch zu recken, dass man wieder auf ihn aufmerksam wurde. Der Lärm ebbte ab.
»Jetzt wissen wir wirklich, dass dein junger Begleiter Geschan, der siebte Richter, ist. Werdet Ihr uns verzeihen, Richter?«
»Ich habe es bereits getan«, versicherte Yonathan. Seine Stimme klang weniger würdevoll als beabsichtigt – eher brüchig und verlegen.
Der Greis atmete auf und mit ihm die ganze Sippe. »Wir danken Euch. Und jetzt zu Euch, Gimbar, Sohn Gims, den man den Zweimalgeborenen nennt. Auch Euch haben wir verleugnet. Werdet auch Ihr uns Vergebung gewähren?«
Gimbar lächelte schief und nickte. »Schon vergessen, Ehrwürdiger.«
Der Greis schien gerührt von so viel Großmut. Er musste sich erst sammeln, bevor er die feierliche Formel sprechen konnte, die seit Generationen vom Vater an den Sohn überliefert worden war. »So pflanzt denn die Aufgabe in unser Herz, Träger des Mals.«
Gimbar schaute Yonathan unsicher an und flüsterte: »Was soll ich pflanzen?«
Yonathan unterdrückte ein Grinsen. »Du musst ihnen jetzt beibringen, dass wir morgen auf Drachenjagd gehen.«
VIII.
Der Drachenberg
Aus dem »Morgen« wurde nichts, das sah Yonathan trotz seiner Ungeduld ein. Die geplante Expedition zum
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