Isau, Ralf - Neschan 03
längste Zeit dein Freund gewesen.«
»Stimmt genau«, antwortete Yonathan. Sein ernster Gesichtsausdruck wurde durch ein Lächeln aufgehellt und er fügte hinzu: »Dies ist nur das erste Auge. Wir müssen noch fünf weitere finden. Mach dir also keine Sorgen. Ich komme zurück.«
Sie nahmen sich zum Abschied in die Arme. Gimbar nickte Yonathan entschlossen zu, weil er wusste, dass es sein Freund selbst in der Dunkelheit am Berg »sehen« würde, mit welcher Art Augen auch immer. Dann setzte Yonathan allein seinen Weg fort.
Das letzte Stück erwies sich als besonders steil. Yonathan war aufs Äußerste angespannt. Langsam, doch stetig erklomm er den Gipfel des Drachenberges, setzte Fuß vor Fuß und streckte seine Gedankenfühler nach dem aus, was vor ihm lag. Er spürte, dass es da etwas gab.
Vom Drachen fehlte jede Spur, offenbar war er »ausgeflogen« – der Lärm, den sie beim Aufstieg gemacht hatten, hätte ihn ansonsten längst herbeigelockt. Auch die Anwesenheit irgendeines Bewusstseins fühlte Yonathan nicht. Er sah keine Bilder, spürte keine Empfindungen, wie es bisher immer der Fall gewesen war, wenn er sich einem anderen Geist genähert hatte.
Und trotzdem war dieser Berg nicht verlassen. Eine bedrohliche Gegenwart hing über Har-Liwjathan wie die dunkle Wolkenbank eines dräuenden Gewitters.
Vorsichtig hob Yonathan den Kopf über die Kante des letzten Absatzes. Vor ihm lag ein geräumiges Plateau, an dessen einem Ende der Fels weiter zur Bergspitze anstieg. Ein riesiges Tor war dort in das Gestein getrieben, hochragende Wandpfeiler säumten die Öffnung zu einer Höhle, aus der karminrotes Licht drang.
Vermutlich diente die Ebene dem Drachen als Start- und Landeplatz. Dann musste sich hinter dem Durchlass seine Behausung befinden.
Yonathan atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Als Junge hatte er einmal in London die Westminster Abbey besucht und anschließend Saint Paul’s Cathedral besichtigt. Aber die Pforte vor ihm ließ auf einen solch gewaltigen Innenraum schließen, dass wohl selbst die Kirchenschiffe jener mächtigen Bauwerke mit ihm nicht konkurrieren konnten.
Fast hätte sich Yonathan gewünscht dem Drachen hier, im Freien, zu begegnen. Der Gedanke, in der Höhle gefangen zu sein, wenn der Wächter des Auges den Fluchtweg versperrte, behagte ihm überhaupt nicht.
Auf leisen Sohlen huschte er über das Felsplateau. Am Eingang zur Drachenhöhle blieb er stehen und lauschte. Kein Laut war zu hören. Sein Blick wanderte in die Höhe, dorthin, wo die steinernen Pfeiler des gigantischen Tores in einen Bogen übergingen. Ein Schauer überlief seinen Rücken. Er kam sich vor wie eine Maus, die beabsichtigte allein eine Burg zu erobern. Dann schaute er ins Innere der Höhle.
Zunächst blendete ihn das grelle rote Licht. Seine Hand schloss sich enger um den Stab. Vorsichtig betrat er den Horst des Drachen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die rot glühende Helligkeit. Der Innenraum übertraf alle seine Erwartungen – eine hohe und überaus geräumige Halle aus gewachsenem Fels rückte die Dimensionen des Eingangstores ins rechte Verhältnis. Jeder Schritt kostete Yonathan große Überwindung. Es war, als müsse er sich durch eine zähe Flüssigkeit kämpfen. Je weiter er sich dem Strahlen im Zentrum näherte, umso schleppender kam er voran. Gleichzeitig wurde das Licht immer heller.
Hatte Bar-Hazzats Auge ihn erkannt? Wusste es, dass er hier war, um es zu zerstören?
Yonathan konnte schemenhaft erkennen, dass sich in der Mitte der Halle ein Felsblock, ein Sockel oder etwas Ähnliches, befand, auf dem das Auge lag. Genaueres war in dem grellen Licht nicht auszumachen.
Ringsum gab es nur Stein, keine glatten Wände, sondern schroffe Felsen, aus deren Vorsprüngen sich bizarre Fratzen reckten – sofern man der eigenen Phantasie nachgab. Von dem Drachen war weiterhin nichts zu sehen. Yonathan konnte auch keine Nischen oder Nebenhöhlen entdecken, in denen sich ein solches Wesen von gewiss beträchtlicher Größe hätte verkriechen können.
Als er nur noch wenige Schritte von dem Quell des mächtigen Glühens entfernt war, in dem er das Auge Bar-Hazzats vermutete, wurde der Widerstand fast übermächtig. Yonathans Glieder sträubten sich ihm zu gehorchen. Sein Atem ging schwer. Er fühlte Übelkeit in sich aufsteigen und spürte den Wunsch einfach umzukehren, loszurennen und sich über das Plateau des Berges in die Tiefe zu
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