Isau, Ralf - Neschan 03
Steinbrocken. Davon gab es viele hier: Die ganze Insel bestand nur aus Fels.
Kaum war das Kanu verstaut, brach auch schon der Mond durch die Wolken. Die Freunde warfen erschrocken die Köpfe in den Nacken. Über ihnen ragte dunkel und bedrohlich der Drachenberg in den Himmel, an seiner Spitze das rote Glimmen, das dem Mondlicht die Unschuld geraubt hatte.
»Ich glaube, ich habe dort drüben, ein Stückchen weiter rechts, eine Stelle gesehen, die uns den Aufstieg ermöglichen könnte«, hauchte Gimbar in Yonathans Ohr.
Der nickte stumm und kontrollierte noch einmal seine Ausrüstung: den Stab Haschevet und den Wurzelholzkasten mit Aschereis Rosen. Eine Schlaufe, dicht unter dem goldenen Knauf des Stabes angebracht, sollte verhindern, dass ihm das kostbare Stück beim Klettern aus der Hand glitt. Einen zweiten, längeren Riemen hatte er an dem Rosenbehälter befestigt. Mit ihm konnte er den Kasten bequem auf dem Rücken tragen.
»Willst du wirklich mit dieser sperrigen Kiste auf den Berg klettern?«, fragte Gimbar skeptisch.
Yonathan nickte noch einmal und wandte sich zum Gehen.
Gimbar hatte Recht. Aus den dunklen Schatten hob sich undeutlich ein steiler, schmaler Pfad, der aber breit genug war, um ihn zu beschreiten.
»Hoffentlich hört er nicht irgendwo auf halber Höhe auf«, flüsterte der ehemalige Pirat.
»Das glaube ich nicht«, antwortete Yonathan leise. »Es sieht ganz so aus, als hätte ihn jemand hier in den Fels geschlagen.«
Sie begannen den Aufstieg. Der Pfad musste schon sehr alt sein. Wind und Regen hatten im Laufe von Jahrhunderten an ihm genagt wie ein Hund an einem Knochen. Risse und Spalten, loses Geröll, vorspringende Ecken und Kanten – es gab viele Gelegenheiten, ins Straucheln zu geraten.
Yonathan benutzte einen alten Trick. Er band Gimbar ein Seil um den Leib, schlang sich selbst das andere Ende um die Brust und benutzte die Kraft der Bewegung und den Wandernden Sinn zur Unterstützung seiner Augen. Schon früher hatte er Yomi auf diese Weise sicher durch die lichtlosen Höhlen des Ewigen Wehrs gelotst.
Je höher die beiden Freunde stiegen, umso mehr verstärkte sich der Druck auf Yonathans Hinterkopf. Es war ein dumpfes, beklemmendes Gefühl. Auch das kannte er aus dem Verborgenen Land. Er, Yomi und Din-Mikkith waren damals am Glühenden Berg vorbeigewandert und der Vulkan hätte sie beinahe getötet. Vielleicht lag es an dieser bedrückenden Erinnerung, dass er für einen Augenblick unaufmerksam war. Sein Fuß rutschte auf einigen losen Steinen aus, und schon hing Yonathan über einem dreihundert Fuß tiefen Abgrund.
Gimbar stöhnte vor Anstrengung. Er hatte den Sturz abgefangen und die Leine geistesgegenwärtig um einen Felsvorsprung geschlungen. Vom anderen Ende des Seils war kein Lebenszeichen wahrzunehmen, nur das sanfte Pendeln eines schlaffen Körpers. Gimbar befürchtete schon das Schlimmste, als sich Yonathan endlich bewegte. Der Schreck saß ihm noch in den Gliedern, aber bis auf ein paar Schrammen fehlte ihm nichts.
»Ich finde, dies ist nicht der rechte Ort zum Schaukeln«, beklagte sich Gimbar, so leise es ging.
Das half Yonathan den Schock zu überwinden. Er zog sich über die Kante, die ihm beinahe zum Verhängnis geworden wäre, und blieb erschöpft sitzen. Wie gut, dass er die Schlaufe am Stab befestigt hatte, sonst wäre Haschevet mit Sicherheit in die Tiefe gestürzt. Nach einiger Zeit gab er ein unverständliches Gemurmel von sich.
»Was hast du gemeint?«, fragte Gimbar.
»Ich sagte, dass ich froh bin dich dabeizuhaben. Danke!«
Gimbar grinste in die Dunkelheit. »Goel ist ein wirklich weiser Mann.«
»Ich schlage vor, wir sind jetzt wieder still. Du weißt schon, warum.«
Etwa zweihundert Fuß unter dem Gipfel entdeckten die beiden eine tiefschwarze Spalte, kaum erkennbar im dunklen Gestein des Felsens.
»Ein idealer Platz«, flüsterte Yonathan.
»Keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Du wirst dich hier verstecken.«
»Und du?«
»Ich hole dich auf dem Rückweg wieder ab.«
»Kommt nicht in Frage!«
»Keine Widerrede, Gimbar. So war es abgemacht und du hast mir dein Wort gegeben. Erinnerst du dich?«
»Mein Gedächtnis ist nicht so gut wie deins.«
»Das ist doch nur eine Ausrede.«
»Ja.«
»Dann siehst du es also ein?«
»Nein.« Yonathan wollte gerade noch einmal an Gimbars Vernunft appellieren – diesmal mit größerem Nachdruck –, als dieser fortfuhr: »Doch ich stehe zu meinem Wort. Aber wehe, dir passiert was. Dann bin ich die
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