Isch geh Schulhof: Erfahrung
durchweg unfaires System baut schließlich darauf auf: Wer gute Noten hat, kommt auf die gute Oberschule und kann dort einen guten Abschluss machen. Wer einen guten Abschluss hat, bekommt eher den Studienplatz seiner Wahl und hat damit bessere Chancen auf einen gut bezahlten Arbeitsplatz. In Erinnerung an den Prozess meiner eigenen Notengebung halte ich mir selbstkritisch vor Augen, wie wenig objektiv dies in den letzten Monaten verlief – erschreckend, wie abhängig unsere Biografien also von der Gunst unserer Lehrer sind.
Vor diesem Hintergrund wundert mich auch der Zeitungsartikel nicht mehr, den ich vor wenigen Tagen zu diesem Thema gelesen habe. Dort wurde die Untersuchung einer Stiftung vorgestellt, aus der deutlich hervorging, dass der familiäre Hintergrund fast immer mit in die Bewertung einfließt.
Nun ja, von der Absicht, gute Noten für ein sorgenfreies Leben zu sammeln, sind die meisten Kinder unserer Schule meilenweit entfernt. Im Rückblick auf meine eigene Schulzeit – vor allem auf die fünfte und sechste Klasse – habe ich dafür viel Verständnis, aber deswegen muss ich mich von Ardahan noch lange nicht dumm anmachen lassen. Also erkläre ich ihm, wie einfach sich seine Note noch ändern lässt.
»Würde dich eine schlechtere Note denn überhaupt stören?«, frage ich ihn schließlich.
Er antwortet mir mit einem Geräusch, das in Kanack Sprak (so lautet die liebevolle Bezeichnung der Kids für ihren Slang) Nein bedeutet. Anfangs habe ich mich darüber ziemlich aufgeregt, inzwischen muss ich mir immer das Lachen verkneifen, wenn mir jemand auf eine Frage anstatt mit Nein nur mit diesem läppischen Zungenschnalzer antwortet. Dazu formen die Schüler mit den Lippen einen Kreis, legen einen betont coolen Blick auf und deuten ein Kopfschütteln an. Ein bisschen klingt das Geräusch so wie ›das‹ dreifache Ts-Ts-Ts, das verwendet wird, wenn jemand unartig war. Manchmal provoziere ich diesen Laut der Kids regelrecht, weil ich mich innerlich so herrlich darüber kaputtlachen kann.
»Hast du dein Sportzeug dabei?«
Zungenschnalzer.
»Hausaufgaben gemacht?«
Zungenschnalzer.
»Hast du ihm wirklich nicht die Nase blutig gehauen?«
Und wieder: Zungenschnalzer. Großartig.
Die letzten Minuten des Schuljahres tröpfeln vor sich hin, und trotz aller Widrigkeiten, trotz der massiven Sorgen, die ich wegen der Perspektivlosigkeit vieler Kids regelmäßig mit nach Hause genommen habe, arbeite ich inzwischen richtig gern als Lehrer.
Warum?
Das kann ich auch nicht so genau sagen. Ein regelmäßiges Gehalt – das mit Blick auf die Entlohnung anderer Jobs gar nicht so schlecht ist! – ist sicherlich nur ein Teil der Antwort. Hier ist immer etwas los, ich kann (wenn auch inhaltlich unterfordert) meinen pädagogischen Methodenkoffer täglich erweitern, meine Stressresistenz ausbauen und meine emotionale Belastungsgrenze jeden Tag ein Stückchen nach hinten verschieben. Wer einmal als Grundschullehrer im Kiez gearbeitet hat, versichere ich mir immer wieder, dem geht es wahrscheinlich wie Autofahrern, die in Paris ihren Führerschein gemacht haben: Die schockt nichts mehr.
Nicht zuletzt ist es aber das Gefühl, mit meinem Wirken wenigstens einen kleinen Beitrag für eine gesunde Gesellschaftsstruktur zu leisten. Dank der konstruktiven Arbeit mit diesen Kids hat sich in den letzten Wochen eine langfristige und stabile Zufriedenheit in mir eingestellt. Nach und nach merke ich, wie stark mein persönlicher Einfluss auf die Schüler und ihr Verhalten ist. Inzwischen bin ich Ansprechpartner für Kinder, mit denen sonst kaum ein Erwachsener spricht – und genau dieses Gefühl, gebraucht zu werden und hilflosen Schülern eine Hilfe sein zu können, lässt mich jeden Morgen fünf Minuten vor dem Wecker wach werden.
Das Ende des Schuljahres bedeutet aber auch, dass mein Arbeitsvertrag ausläuft, und so renne ich seit mehreren Wochen Herrn Friedrich hinterher, um herauszufinden, ob es eine Chance auf eine Vertragsverlängerung gibt. Wie auch meiner PKB -Kollegin Friederike versicherte er mir mehrmals, dass es an ihm nicht läge, denn schließlich sei auch er daran interessiert, mich als Lehrer an der Schule zu behalten. Heute, am letzten Schultag, ist es dann so weit: Friederike und ich werden kurz vor der abschließenden Dienstversammlung zum Gespräch gebeten. Als wir sein Büro betreten, befindet sich unsere Spannung auf dem Höhepunkt, doch Herr Friedrichs traurige Miene spricht Bände. Nachdem er einige
Weitere Kostenlose Bücher