Isch geh Schulhof: Erfahrung
schließlich genüsslich in ein handelsübliches Milchspeiseprodukt, das zu allergrößten Teilen aus Fett und Zucker besteht, aber als gesunde Zwischenmahlzeit beworben wird. Ich weise ihn darauf hin, dass er während der Stunde nicht essen darf, was ihn offensichtlich überrascht.
»Is doch nur Müllschnitte«, entgegnet Jack mit vollem Mund.
Ich muss grinsen, was sein Nachbar Justin sofort bemerkt und laut lachend einsteigt.
»Müllschnitte, hahaha, isch lach misch tot. Er isst Müll! Hahaha …«
Während seines Lachanfalls kommt Justin einem der Mädels aus der Reihe hinter ihm zu nahe, die ihm daraufhin kräftig auf die Schulter boxt. Er setzt eine schmerzverzerrte Miene auf, hält sich die Hand an die verwundete Stelle und heult laut auf.
»Mann, du Schlampe! Schlag misch nisch! Wegen isch wurde Freitag geümpft. Gegen Tatunes.«
Mit einer Mischung aus Bestürzung und Begeisterung entnehme ich seinem Bericht, dass er wohl vor Kurzem eine Tetanusimpfung bekommen hat. Samira, das Mädchen hinter ihm, widmet sich wieder ihrem girliemäßigen Ausmalbuch. Mit großer Sorgfalt verleiht sie großäugigen Strichfiguren ihren eigenen Look: schicke Glitzerklamotten, Lidschatten und knallrote Lippen. Frau Sommer fordert Samira streng dazu auf, einen Arbeitsbogen vom Lehrertisch zu holen. Lustlos schlendert sie nach vorne, und ich kann ihre Sitznachbarin Talibe genauer unter die Lupe nehmen, das Mädchen, das uns vorhin mit offen stehendem Mund begrüßt hat. Sie arbeitet offenbar schon länger an einem Krikel-Krakel-Kunstwerk. Als ich sie anspreche, starrt sie mich wieder geistesabwesend an und scheint dabei einen Punkt zu fixieren, der irgendwo hinter meinem Kopf liegt. Meine Frage nach der Liste überrascht sie sichtlich, also zeige ich wortlos auf die Tafel.
»Oh. Isch mache jetzt!«
Auf meinem Weg zu Herrn Winter in der letzten Reihe sitzen ein paar Kids, die offensichtlich zum harmloseren Teil der Klasse gehören. Darunter befindet sich ein vietnamesisches Mädchen mit dem schwierigen Namen Cai-Thao, die bereits mit sämtlichen Aufgaben fertig ist und in einem Buch liest.
Der Scherzkeks, der sich uns als Herr Winter vorgestellt hat und eigentlich Oktay heißt, scheint ein ganz netter Kerl zu sein. Unter seinem Käppi trägt er, wie viele andere Jungs der Schule auch, eine Boxerfrisur mit sauber rasierten Seiten und kurzen Haaren auf dem Kopf. Dazu darf der glänzende Trainingsanzug nicht fehlen. Er und sein Nachbar haben ebenfalls alle Aufgaben erledigt, sodass ich sie ohne Bedenken weiter leise quatschen lassen kann.
Der nächste Schüler sitzt ganz hinten in der Mitte an einem einzelnen Tisch, auf dem sich außer dem Namensschild kein einziger Gegenstand befindet. Kippelnd lehnt er an der Wand, lässt die Beine baumeln und kaut Kaugummi. Auf meine erste Frage reagiert er nicht, also schnappe ich mir einen Stuhl und setze mich zu ihm. Laut schmatzend starrt er mich an. Sein Blick ist leer und angriffslustig zugleich. Die großen Zähne stehen schief aus seinem Mund heraus, den er beim Kaugummikauen kreisförmig wie eine Kuh bewegt. Auf die Frage nach dem Abschreiben der Liste hat er eine besonders tolle Antwort parat.
»Sch’ab Foto gemacht!«, bringt er schmatzend hervor und zeigt mir dann sein brandneues Smartphone. Gar nicht mal so doof. Weil ich mit der Autoritätskeule bei ihm wahrscheinlich nur Ablehnung hervorrufen würde, lasse ich ihn sitzen. Ist zwar nicht gerade professionell, aber alles andere würde jetzt nur in Krawall ausarten.
Dem nächsten Tisch brauche ich mich nicht zu nähern, denn die kleine Aygül kommt bereits auf mich zugesprungen. Sie ist ein gutes Drittel kleiner als die restlichen Mädchen der Klasse, ausgesprochen dünn und trägt zwei geflochtene Zöpfe.
»Herr Müller, Herr Müller, Herr Müller«, ruft sie mit aufgerissenen Augen und grinst über beide Ohren. Dabei hüpft sie von einem Bein aufs andere und klatscht in die Hände.
»Was denn?«
Mit dieser Rückfrage hat sie wohl nicht gerechnet. Plötzlich bleibt sie ruhig stehen, legt den Zeigefinger an den Mund und überlegt. Ihr Blick schweift in die Ferne. Ich begleite sie an ihren Platz, erkläre ihr die Aufgabe und weise sie dort alle zehn Sekunden darauf hin, auf ihrem Platz sitzen zu bleiben.
»Weißt du was?«, fällt ihr auf einmal ein. »Heute morgen sch’hab meine Medikamente nisch genommen!«
»Was denn für Medikamente?«
»Na, gegen ADHS ! Isch muss jeden Tag nehmen, aber mein Mama sagt, dann
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