Isch geh Schulhof: Erfahrung
ihre Plätze einzunehmen.
»Guten Morgen allerseits, ich bin Frau Sommer, eure neue …«
Weiter kommt sie nicht.
»Und isch bin Herr Winter!«, pöbelt ein großer Junge aus der letzten Reihe, woraufhin die ganze Klasse in lautes Gelächter ausbricht. Frau Sommer nimmt’s scheinbar locker, setzt ihre Vorstellung fort und kündigt dann mich an. Ich stehe langsam von meinem Platz am Lehrertisch auf, trete vor die Klasse und schaue ruhig in den Raum. Jetzt, genau jetzt, darf ich keinen einzigen Fehler machen. Aus dem letzten Jahr weiß ich: Dies ist der pädagogische Point of no Return, der wichtigste Moment für das zukünftige Verhältnis zwischen mir und der Klasse.Ich achte auf eine aufrechte Körperhaltung, mache letzte Quatschköppe mit einem Räuspern und einem strengen Blick auf mich aufmerksam und stelle mich dann vor.
»Guten Morgen«, beginne ich ohne ein Lächeln. Nett sein kann ich später immer noch. »Ich bin Herr Möller, euer neuer Musik- und Sportlehrer. Ich freue mich auf den Unterricht mit euch, aber ich sage euch gleich …«
Hier lege ich eine wichtige Kunstpause ein und erkläre den Kids danach in ruhigem Ton, dass ich mir dumme Sprüche, wie den von Herrn Winter, in meinem Unterricht verbitte. Der Störenfried setzt zum Reden an, doch so weit lasse ich es erst gar nicht kommen.
»Möchtest du der Erste sein, der heute Nachmittag den Hof fegt?«, frage ich ihn kühl und schaue ihm dabei ohne ein Blinzeln in die Augen.
Es klingt verrückt, aber bei der Auseinandersetzung mit einigen Jungs habe ich die Erfahrung gemacht, dass es vor allem darauf ankommt, deren Blick standzuhalten.
»Nein«, sagt er nach einem Moment des archaischen Platzhirschgehabes und schaut betreten weg.
»Gut, dann fangen wir am besten damit an, dass du dein Käppi abnimmst.«
Er verdreht die Augen, nimmt widerwillig seine zu eng geschnallte Schirmmütze vom Kopf und schnalzt beleidigt mit der Zunge. Jetzt muss ich beweisen, dass ich nicht zu Scherzen aufgelegt bin.
»Gibt’s irgendwelche Beschwerden?«, frage ich ihn ruhig und schaue ihm dabei wieder fest in die Augen.
»Nein!«, antwortet er mit finsterer Miene.
»Gut, dann macht Frau Sommer jetzt weiter.«
Lief doch ganz gut.
Meine Kollegin fährt mit ihrem Unterricht fort, verteilt Namensschilder, schreibt eine Liste von Materialien an die Tafel, die die Schüler von den Eltern besorgen lassen sollen, und gibt die Anweisung, diese Liste abzuschreiben. Ich dagegen nehme wieder am Lehrertisch Platz und setze die Imagepflege als strenger Lehrer fort: Mit unbewegter Miene folge ich dem Geschehen und beantworte erste Anfragen der Kinder nur kurz und knapp. Dieses Verhalten missfällt mir zwar immer noch etwas, aber ein paar harte Jungs hatten mir kurz vor ihrem Abgang von der Schule im letzten Jahr noch etwas Elementares erklärt: In den ersten Sekunden würden sie merken, ob sie einem neuen Lehrer auf der Nase herumtanzen könnten oder nicht. Mit dieser Information ziehe ich meine Tour lieber durch. Als Frau Sommer mit der Beantwortung einzelner Fragen beschäftigt ist, mische auch ich mich unter die Kids, um die Klasse besser kennenzulernen. Dabei ahne ich natürlich noch nicht, dass mich diese Klasse die nächsten zwei Jahre begleiten wird.
Direkt vor dem Lehrertisch sitzen zwei Jungs, die schon äußerlich so unfreiwillig komisch sind, dass sie wahrscheinlich in kürzester Zeit zu Youtube-Stars werden könnten. Der weniger dicke von beiden, Justin, ist der deutlich aktivere und scheint seit Beginn der Stunde damit beschäftigt zu sein, seine Hyperaktivität in den Griff zu kriegen. Auf seinem Pullover ist ein kleiner Junge mit tief sitzenden Hosen abgebildet, der einen Joint raucht. Unentwegt spielt Justin mit Stiften herum, spricht mit sich selbst, lacht über seine eigenen Witze, kippelt, dreht sich zu den Mädels hinter ihm um, zappelt mit den Beinen und singt Lieder. Ich schaue ihn fragend an.
»Musst du aufs Klo, oder was ist mit dir los?«
Auf dem Namensschild von Justins Nachbar steht etwas geschrieben, das ich gerade so entziffern kann. Den Unterschied zwischen Klein- und Großbuchstaben kennt jaCk wohl noch nicht, und warum die letzten beiden Buchstaben spiegelverkehrt geschrieben sind, erschließt sich mir auch nicht. Sichtlich von Justin genervt erklärt mir Jack, dass sein Nachbar immer so drauf sei. Während er spricht, hängt jeder Teil seines umfangreichen Gesichts lustlos nach unten. Dann kramt er einen Moment in seiner Tasche und beißt
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