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Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Möller
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deren Wirkung dann auf ausschweifende Tanzveranstaltungen, von denen sie sich anschließend mehrere Tage erholen müssen – oder landen mit irreversiblen neurologischen Störungen in der Psychiatrie.
    Vorsicht ist bei der Einnahme solcher Substanzen also immer geboten, daher teile ich die kritische Meinung über dieses Medikament. Aber seitdem ich Menschen wie Jamil kenne, der ohne Ritalin nicht beschulbar scheint, bin ich zu der Ansicht gekommen, dass man es bestimmten Menschen nicht vorenthalten sollte.
    Deutlich wird das besonders an den Tagen, an denen Jamil sein Ritalin nicht genommen hat, und heute erlebe ich es wieder einmal hautnah mit, was das bedeutet. Als Jamil nach dem Umziehen brüllend in die Halle stürmt, schießt er jeden Ball, der vor seinen Füßen landet, durch die Gegend, schubst andere Kinder, schmeißt sich auf den Boden, zappelt und imitiert paarende Hunde. Das volle Programm. Nach ungefähr einer Minute ungebremster ADHS -Randale kommt sein erstes Opfer weinend zu mir gerannt, also mache ich mich auf die Jagd nach ihm. Es ist gar nicht so einfach, jemanden zu fangen, wenn man ihn nicht berühren darf. Bei Berührungen kriegt man nämlich gern zu hören: »Isch zeig disch an, ja? Bei Polizei, ja?« Ihre Rechte kennen viele Schüler sehr gut, nur ihre Pflichten leider nicht.
    Als ich endlich vor ihm stehe und ihm ruhig, aber bestimmt sage, dass er sich zusammenreißen muss, weil ich ihn sonst vom Sportunterricht ausschließe, macht er nicht den Eindruck, als würde er mir zuhören. Wie ein junger Hund steht er vor mir, komplett außer Atem, völlig überdreht und beschimpft seine Mitschüler.
    »Du Missgeburt, isch kriege disch, ja? Dein Mutta is …«
    Er bemerkt, dass ich seit einer Minute aus nächster Nähe auf ihn einrede, und schreit mich plötzlich an. »Du bist kacke! Dein Unterricht ist scheiße! Sch’asse disch!«
    Dann rennt er weiter. Eine weitere Minute später gibt es den nächsten Zusammenprall. Diesmal mit einem Mitschüler, der daraufhin mit Nasenbluten auf die Bank muss. Während ich zwei Schülerinnen kurzerhand zu Krankenpflegerinnen erkläre, knöpfe ich ihn mir erneut vor.
    »Ich hab’s dir gesagt! Jetzt ist es soweit, dass …«
    »Is mir egal, was du sagst. Sch’hasse dich, du bist scheiße und dein Unterrischt auch. Fick disch!«
    Mit diesen Worten lässt er mich stehen. Ich atme tief durch und spule im Geiste mein Mantra ab, dass er nichts dafür kann, dass er krank ist und ich ihn dafür nicht bestrafen sollte. Aber irgendwie muss es mir trotzdem gelingen, die Sicherheit der anderen Kinder zu gewährleisten.
    Vielleicht sollte ich mir für solche Notfälle eine Druckluftpistole zulegen und mit kleinen Ritalinkapseln befüllen. Die Ritagun – eine echte Marktlücke.
    »Herr Müller, schnell!«, reißt mich eine Schülerin aus meinen Businessplänen.
    Jamil liegt auf dem Boden und hält einen deutlich kleineren Mitschüler im Schwitzkasten. Als ich angerannt komme, ist der Kopf des Kleinen bereits knallrot angelaufen. Mit den Worten »Es reicht!« reiße ich Jamil von ihm herunter.
    »Du Ficka, isch zeig disch an!«, schreit er.
    »Is mir scheißegal«, brülle ich zurück und baue mich bedrohlich vor ihm auf.
    Das hat gesessen. Immer das Gleiche: Nettigkeit ist Schwäche, das Einzige, was zieht, ist die nackte Autorität. Manchmal komme ich mir vor wie in einem Wolfsrudel.
    Jetzt langt’s mir, freies Spiel ist over ! Mit meiner Trillerpfeife signalisiere ich den Schülern, dass sie sich im Kreis zusammenfinden sollen. Außer Jamil verstehen das alle und setzen sich in den Mittelkreis. Bei ihm scheint sich kurzfristig eine Art Tourettesyndrom eingestellt zu haben: »Du bist scheiße, sch’hasse disch, du Ficka, sch’asse disch, fick disch …«
    Einige Schüler müssen schmunzeln. In Ermangelung weiterer Ideen packe ich meine pädagogische Geheimwaffe aus: Ignoranz. Ich setze mich also zu den anderen in den Kreis und blende Jamil gekonnt aus. Es zieht. Er setzt sich gegenüber von mir hin und gibt Ruhe. Freu dich bloß nicht zu früh, denke ich mir, begrüße die Klasse und erzähle, was wir heute machen.
    »Sag isch doch: Dein Unterrischt is scheiße!«, brüllt Jamil plötzlich wieder. »Und du bist auch scheiße, du Ficka!«
    Ach, wie schön es doch wäre, einen Zweitlehrer dabeizuhaben – wie andere Sportlehrer auch. Der könnte sich dann um Jamil kümmern, ihn zur Seite nehmen, zur Not ins Sekretariat bringen, die Eltern anrufen und ihn abholen lassen. Der

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