Isch geh Schulhof: Erfahrung
Möller, der ist zwar kein gelernter Sportlehrer, denkt man sich in der Schulleitung wahrscheinlich, aber der ist jung und unverbraucht. Da schicken wir die Zweitlehrer doch lieber zu den ausgebrannten Kollegen, die fast das Doppelte verdienen. Der Möller kommt schon klar …
Was bleibt mir also anderes übrig, als das Dilemma vor Ort zu klären? Ich kann Jamil ja schlecht ins Sekretariat bringen, während die anderen Schüler unbeaufsichtigt in der Halle herumturnen, sich dabei Arme und Beine brechen und ich am Ende – zu Recht – wegen verletzter Aufsichtspflicht verklagt werde.
Jamil ist noch immer am Schimpfen.
»Du Arschloch, fick disch, deine Mutter …«
»Weißt du, Jamil«, unterbreche ich ihn ruhig, »wenn jemand anderes so etwas zu mir sagen würde, dann würde mir das was ausmachen.«
Er wird hellhörig. Die ganze Klasse ist auf einmal mucksmäuschenstill. Dann fällt mir etwas ganz besonders Dummes ein.
»Aber bei dir macht mir das nichts aus, denn ich weiß, dass du nicht gesund bist.«
Idiot! Die ganze Zeit bist du so cool geblieben, und jetzt das!
Jamils Brust fängt an, sich zu heben und zu senken, die Tränen steigen ihm in die Augen, er zittert vor Wut.
»Du Wichser!«, brüllt er. »Du darfst nicht sagen, dass isch krank bin!«
Er steht auf und geht auf mich los. Ich sehe in seinem Blick, dass er nun keine Rücksicht auf Verluste mehr nimmt, auch nicht, wenn er mich dabei ernsthaft verletzen könnte. Die anderen Schüler, von denen ich mir jetzt wünsche, dass sie zur Schlichtung der Situation beitragen würden, springen auf und fangen reflexartig an, im Chor zu brüllen: »Einzelkampf, Einzelkampf!«
Ich kann es kaum fassen.
Jamil ist total außer Kontrolle. Wutentbrannt und mit ausgeholter Faust stampft er auf mich zu. Ich greife nach seinem Handgelenk, drehe mich schnell hinter ihn und drücke seine Arme fest auf seine Brust. Konfrontiert mit dem Angriff von Jamil ist dies die erste Reaktion, die mein geschocktes Hirn zustande bringt.
»Hört auf, ihn anzufeuern!«, verlange ich von den anderen, »und nehmt ihm schnell die Brille von der Nase, damit er sich nicht verletzt!«
Jamil ist außer Rand und Band, nicht mehr ansprechbar. Mit Schaum vorm Maul schleudert er mir alle ihm bekannten Schimpfwörter entgegen und wirft den Kopf wild um sich. Weil ich seine Arme festhalte, fängt er außerdem an, mit den Hacken um sich zu treten. Ich steige also auf seine Füße und schreie wieder, so laut ich kann.
»Holt sofort einen anderen Lehrer aus der anderen Halle! Schnell!«
Endlose Minuten später ist eine Kollegin vor Ort und beruhigt Jamil so weit, dass ich ihn loslassen kann. Sie führt ihn aus der Halle und dreht sich kurz zu mir um.
»Alles okay? Kannst du weitermachen?«
»Jaja, klar«, sage ich perplex und prüfe, ob ich irgendwo verletzt bin.
Dann kehrt wieder Stille ein. Der Rest der Klasse steht vor mir und starrt mich erwartungsvoll an. Ich zittere am ganzen Körper.
»Sofort hinsetzen!«, zische ich leise und messerscharf.
Und dann gilt: durchatmen, weitermachen. So läuft das hier.
Nach der Sportstunde, die hauptsächlich aus Standpauken und Strafrunden bestand, verlasse ich die Halle und zittere noch immer am ganzen Körper. Bei einer Zigarette frage ich mich schließlich, ob ich gestern die richtige Entscheidung getroffen habe. Die Senatsverwaltung hat meiner Vertragsverlängerung für die nächsten sechs Monate zugestimmt, also bin ich mal wieder zur Unterschrift in den Verwaltungsbunker gefahren.
Nach einer solchen Aktion wie eben hätte ich allerdings keinen weiteren Vertrag unterzeichnet. Lieber wäre ich vorübergehend arbeitslos geworden, als mich weiter diesem Terror auszusetzen!
Ich frage mich, wie lange ich das noch durchhalte. Wie gehen andere Lehrer mit solchen Situationen um? Wie hätte eine kleinere und ältere Kollegin, die über deutlich weniger Körperkraft verfügt als ich, auf den Angriff eines durchdrehenden Fünftklässlers reagiert?
Hoffentlich begegnet mir heute niemand mehr, der sich über das gute Gehalt von Lehrern oder die vielen Ferien beschwert. In meiner jetzigen Verfassung würde ich so jemanden wahrscheinlich am Ohrläppchen in die Schule schleifen und zu einer Woche Strafpraktikum verdonnern – mal schauen, ob es dann noch Anlass zum Neid gäbe!
16
Neue Perspektiven
D ie Entspannung, die die Weihnachtsferien und der Jahreswechsel vor dem Einzelkampf mit sich gebracht hatten, war danach schnell verflogen, sodass die
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