Isch geh Schulhof: Erfahrung
Positives assoziieren, besteht überhaupt eine Chance darauf, einen Lernerfolg zu erzielen. Würden die Kids denken: ›Bah, der Möller, dieser langweilige Typ, auf den hab ich gar kein Bock‹, dann bräuchte ich gar nicht erst zur Schule zu kommen, denn: ohne Freude kein Dopamin, und ohne Dopamin kein Lernprozess. Eine der wichtigsten Grundregeln des Lehrberufs ist also: für Spaß im Unterricht sorgen, um die Dopaminproduktion anzuregen. Viele der Kids haben sowieso wenig zu lachen, und weil ich hier eher als Sozialarbeiter und Einzelfallbetreuer denn als Lehrkraft im klassischen Sinn arbeite, nutze ich vor allem die Musikstunden gern zum Herumalbern.
Aber: Teaching is timing! Nach dem kollektiven Lachflash lasse ich wieder etwas Ruhe einkehren, spreche einzelne Schülerinnen und Schüler namentlich an und – ganz wichtig! – gönne uns allen dann zwei bis drei Sekunden Stille.
»So, wir probieren es noch mal«, nehme ich den Faden wieder auf und ermutige die Schüler, vor der Klasse vorzusingen, gern auch zu zweit oder zu dritt. Zögernd finden erste Absprachen unter Freunden statt.
»Ich gebe auch Zensuren dafür.«
Das war das Zauberwort!
»Wir, Herr Mülla, isch’wöre – wir machen iebergeil!«
Jetzt schreien alle durcheinander.
Wo kommt nur diese Bewertungsgeilheit her? Wahrscheinlich nicht nur von einer uralten Kultur der Notengebung, sondern auch von dem ganzen Castingmüll im Fernsehen, den schon Zweitklässler jede Woche gucken. Bis halb elf Uhr abends, mit ihren Eltern – klar!
Einmal musste ich mit Sarah und ihren Freundinnen eine dieser Shows gucken. Bevor ich wegen meiner ständigen Meckerei aus dem Wohnzimmer geschmissen wurde, ist mir aufgefallen, dass es zwischen dem Verhalten des Publikums im Fernsehstudio und dem meiner Schüler große Parallelen gibt. Eine der Jurorinnen musste den Namen eines Teilnehmers nur erwähnen, woraufhin die Masse so laut gegrölt hat, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte.
Und genau so läuft es bei uns in der Schule auch manchmal.
»Herr Mülla, wenn Frau Gärtner fehlt, kriegen wir dann schulfrei?«, wurde ich einmal gefragt.
»Nein, das kann ich nun wirklich nicht verantworten, dass ihr dann schulfrei …«
Fehler! Ich habe das Wort »schulfrei« in den Mund genommen – und damit eine Welle ungezügelter Begeisterung ausgelöst.
»Herr Mülla hat gesagt: schulfrei!«
»Wir können Schwimmbad gehen, vallah!«
»Sch’wör ma, ja? Iiiiiieeeeebergeil, isch gehe Media-Markt!«
Das Chaos lässt sich dann nur noch schwer bändigen.
Doch zurück zum Musikunterricht. Nachdem die Schüler in kleinen Grüppchen ihre Performance vor der Klasse abgeliefert haben, sind noch ein paar Minuten Zeit bis zum Ende der Stunde. Auch für diesen Fall habe ich mittlerweile längst ein kleines Arsenal an Spielchen in der Hinterhand.
Das erste ist aus der Einsicht entstanden, dass die Migrationshintergründe meiner Schüler eine reichhaltige kulturelle Vielfalt mit sich bringen – was bietet sich also besser an als eine musikalische Weltreise? Ich fordere alle Kids dazu auf, die Augen zu schließen und sich auf die Musik zu konzentrieren. Dann stimme ich auf der Gitarre einen Flamenco an und improvisiere ein paar Takte spanische Musik. Im Anschluss frage ich die Klasse, aus welcher Region der Welt diese Musik komme, und lasse mir die Gebiete auf der Karte zeigen. Das gleiche Spielchen veranstalte ich mit der asiatisch klingenden Fünftonleiter, amerikanischem Blues, der russischen Tetris-Melodie und französischen Chansons. Die größte Begeisterung entwickeln viele Kids aber bei den Klängen, mit denen sie am besten vertraut sind: der mystische Sound orientalischer Musik, den ich durch betörende Gesänge ergänze.
»Züsch, er spielt Arabien!«
»Nein, Mann, dieser Musik – er ist Türkei!«
Bei einem anderen Spiel lasse ich die Schüler, ebenfalls mit geschlossenen Augen, per Handzeichen zwischen traurigen und fröhlichen Melodien entscheiden. Oder ich lasse sie die Melodien berühmter Fernsehserien erraten, wobei Die Simpsons meist am schnellsten erkannt werden. Sogar ein umfunktioniertes Trinkspiel, bei dem die Kids Musik, Mathe und Englisch kombinieren müssen, konnte ich in meine kleine Liste der großen Freuden aufnehmen. Die Sonnen-, Mond- und Sternenkinder aus den JÜL -Gruppen freuen sich meist die gesamte Musikstunde auf den großen Moment, in dem ich ihr Lieblingsspiel ankündige: Stopptanz. Dann zappeln sie fröhlich und
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