Isch geh Schulhof: Erfahrung
Handbewegung.
»Mit Auto?«, fragt sie herablassend. »Ihr seid krasse Bauern, ja?«
Die sprachlichen Unfähigkeiten einiger Kinder sind so kolossal, dass die Vermittlung einfachster Sachverhalte oft nur auf langen Umwegen stattfinden kann. Andere Dialoge dagegen funktionieren extrem schnell und ohne unnötige verbale Schlenker, wie man an der folgenden Konversation zwischen zwei Jungs aus dieser Klasse erkennt:
»S’machst du?«
»Isch geh Schulhof!«
Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich anfangs immer wieder probiert habe, die Kids von »isch« auf »ich« umzuschulen. Mit ein wenig Übung sind die meisten dazu sogar in der Lage – aber sobald sie wieder zum flüssigen Sprechen übergehen, wird aus »ich weiß« »sch’weiß«, aus »ich habe« wird »sch’abe« und aus »ich heiße« – klar – »sch’eiße«. Vollends aufgegeben habe ich meine logopädischen Versuche, als mir ein Schüler das Etikett seiner Wasserflasche zeigte. Darauf war zu lesen: Natürli sch es Mineralwasser
Vermutlich kein Druckfehler, sondern ein sicheres Zeichen für die Lebendigkeit der Sprache.
15
Einzelkampf, Einzelkampf!
W ährend der Wetteransage im Radio habe ich mich heute Morgen gefragt, wie man am Anfang eines Jahrhunderts schon von einem Jahrhundertwinter sprechen kann, doch als ich das Haus verließ, war mir schlagartig klar, was der Moderator damit gemeint hatte. Als ich nur wenige Minuten später mit der Fünften zu Sporthalle laufe, klirrt die Kälte sprichwörtlich in der Luft über unserer kleinen Karawane. Die Kids und ich sind so warm wie möglich eingepackt, nur einem von uns scheinen die frostigen Temperaturen nichts auszumachen. Jamil hat meine Anweisung, seine Jacke anzulassen, schon wieder missachtet und rennt schreiend und hechelnd um uns herum.
Auf meine rhetorische Frage, was mit dem Jungen schon wieder los sei, kennen seine Mitschüler eine klare Antwort: Medikamente nicht genommen. Na, das kann ja heiter werden. Ich kenne Jamil ja nun schon ein paar Monate als Sportschüler und weiß, dass er wegen seiner ADHS -Diagnose schon lange Ritalin einnimmt. Als Lehrer versuche ich stets, alle Schüler fair zu behandeln, doch Jamil benimmt sich sogar unter Medikamenteneinfluss so krass daneben, dass es mir wirklich schwerfällt.
Weil sein Syndrom während meines Studiums aus nahezu jeder Perspektive beleuchtet wurde, habe ich mich damals intensiv mit dieser prominenten psychischen Störung im Kindesalter auseinandergesetzt und gelernt, dass Laien die Abkürzung oft falsch verstehen. Es handelt sich nämlich nicht um die Eigenschaft, ständig um die Aufmerksamkeit anderer zu buhlen, sondern um ein ernst zu nehmendes psychologisches Phänomen. Seinen Namen verdankt das Zappel-Philipp-Syndrom der Unfähigkeit von Betroffenen, ihre Aufmerksamkeit über einen längeren Zeitraum einer bestimmten Tätigkeit zu widmen. Leiden solche Menschen dann auch noch unter einem ständigen Bewegungsdrang, fügt man dem Akronym noch einen vierten Buchstaben hinzu – und fertig ist das Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätssyndrom, kurz ADHS .
Während unseres Marsches durch die Kälte fällt mir die Erfolgsgeschichte des Medikaments, das Jamil einnimmt, wieder ein. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Wissenschaftler die von ihnen entwickelten Substanzen noch selbst ausprobierten, erfand ein Mitarbeiter eines Schweizer Chemiekonzerns ein Mittelchen, das ihn und seine Frau Rita zu geistigen und körperlichen Höchstleistungen befähigte. Seit 1954 ist diese Substanz, die romantischerweise nach der Ehefrau des Tablettenbäckers benannt wurde, auf dem deutschen Markt als Ritalin erhältlich. Immerhin siebzehn Jahre hat es dann gedauert, bis die Droge 1971 unter das Betäubungsmittelgesetz fiel.
So häufig, wie ADHS in den letzten Jahrzehnten diagnostiziert wurde, so inflationär wurde auch dieses Medikament verschrieben, und deshalb fand es im Laufe der Zeit Einzug in alle Bevölkerungsschichten. Heute wird es sogar von Studenten geschluckt, die nicht unter ADHS leiden, sondern unter etwas, das man besser als ALDS bezeichnen sollte – dem Akuten Leistungsdrucksyndrom. Unter dem Einfluss des Wirkstoffs Methylphenidat – einem Amphetamin, das die Wirkung bestimmter Neurotransmitter verstärkt – stellt stundenlanges und hochkonzentriertes Lernen nämlich überhaupt kein Problem mehr dar.
Andere Menschen kaufen Methylamphetamine übrigens in Form von bunten Pillen oder weißem Pulver und begeben sich unter
Weitere Kostenlose Bücher