Isch geh Schulhof: Erfahrung
kaum infrage. Ich schüttelte abweisend den Kopf, was Frau Juhnke mitbekommt.
Chrissi bricht endlich das Schweigen. »Können wir auch Vertretungslehrer vorschlagen?«, fragt sie forsch und nennt auf die erlöste Antwort der Schulleiterin hin meinen Namen.
Von Frau Juhnke werde ich um eine Stellungnahme gebeten, die mir ziemlich schwerfällt. Wie drücke ich das bloß diplomatisch aus? Schließlich saß ich vor mehr als einem Jahr bereits als Assistent von Herrn Friedrich in der Esel-Runde (wie sie vom Kollegium liebevoll genannt wird) – und die Ergiebigkeit dieser Veranstaltung habe ich stets bezweifelt. Das äußere ich nun laut, und Frau Juhnke erklärt mir, dass sie für ESL bereits ein Konzept entworfen habe und dass dafür zwei Stunden eingeplant seien, von denen die Mitglieder eine angerechnet bekämen. Aus einem gewissen Interesse an den Interna der Schulleitung nehme ich den Vorschlag an und schlage gleichzeitig Chrissi als weitere Kandidatin vor, die nach einem kurzen Zögern ebenfalls zustimmt. Nachdem sich noch zwei weitere Kolleginnen bereit erklärt haben, an unseren regelmäßigen Esel-Runden teilzunehmen, entfällt die Notwendigkeit einer Wahl, sodass wir von Frau Juhnke herzlich als neue Mitglieder der erweiterten Schulleitung begrüßt werden.
Nach einem kurzen Applaus steht ein weiteres Thema auf der Agenda, welches das Interesse des Kollegiums weckt.
»Wie Sie ja bereits wissen«, sagt Frau Juhnke, »soll unsere Schule eine Reformschule werden.«
Ein unzufriedenes Raunen geht durch den Saal, und unsere Schulleiterin hat alle Mühe, sich dagegen durchzusetzen. Kein Wunder: Das Projekt Reformschule wäre die mit Abstand größte Reform der letzten Jahrzehnte – im Falle einer Umsetzung! Diesmal geht es darum, unsere komplette Schule architektonisch und pädagogisch umzubauen. Unser Schulgebäude beherbergt bisher die JÜL -Gruppen der Klassenstufen eins bis drei und die Klassenstufen vier, fünf und sechs; in der Nähe unserer Schule ist ein sogenanntes Förderzentrum untergebracht. Bis vor Kurzem nannte man solche Schulen noch Sonderschulen. Hier werden Kinder mit besonderem kognitiven oder emotional-sozialem Förderbedarf in Kleingruppen von der ersten bis zur zehnten Klasse unterrichtet. Bei Geierchen heißt der Bau nur noch Zombieschule.
Das Projekt Reformschule sieht nun vor, dass sich sämtliche Schüler des Förderzentrums auf die ›normalen‹ Klassen verteilen (das heißt dann Inklusion), während unsere Sechstklässler nicht mehr von der Schule geschickt werden, sondern in siebte Klassen gehen, die in Kooperation mit einer benachbarten Oberschule neu gegründet werden. Im Jahr darauf gehen die dann in die achten Klassen, und diese Aufstockung findet so lange statt, bis unsere Schule zur pädagogischen Heimat für alle geworden ist: Grundschüler, Hauptschüler, Realschüler, Sonderschüler und später auch Gymnasiasten. Da bisher allerdings sämtliche Räume in Benutzung sind, müssen Fachräume und Teilungsräume abgeschafft und zu Klassenräumen umfunktioniert werden. Einfache Rechnungen zeigen, dass so viele Schüler überhaupt keinen Platz in unseren Gebäuden finden können, aber das scheint die Urheber dieser Reform nicht davon abzuhalten, diesen Monsterplan durchprügeln zu wollen. Abgesehen davon bringt eine solche Reform erhebliche strukturelle Herausforderungen mit sich: Die Schule braucht neue Lehrer, ausgeklügelte Stundenpläne müssen gewährleisten, dass die Kleinen nicht gleichzeitig mit den Großen Pause haben, und nicht zuletzt müssen geeignete Unterrichtskonzepte, die auf die hohen Erwartungen aller Beteiligten ausgerichtet sind, entwickelt werden. Denn schließlich sind die Versprechen für die Reformschule nahezu unerreichbar hoch angesetzt.
Auf der Website des Landes Berlin ist zu lesen, dass mit der Reformschule »mehr Chancengleichheit und -gerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen und eine optimale Förderung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten aller Schülerinnen und Schüler« gewährleistet wird. Außerdem wird »eine maximale Lern- und Leistungsentwicklung durch differenzierende Lernangebote und den Ganztagsbetrieb ermöglicht«.
In der Theorie klingt das alles ganz wunderbar, doch nachdem ich mich in den Ferien ausgiebig mit unserem Schulsystem auseinandergesetzt habe, scheint mir unsere Schule von einem solchen Idealzustand im Moment Lichtjahre entfernt zu sein. Unsere Schulleiterin legt jedoch Zweckoptimismus an den Tag und
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