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Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Möller
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und gehen damit die reelle Gefahr ein, dass sich die aktuelle Bildungskatastrophe zu einer Sozialkatastrophe ausweitet?
    Eine Sozialkatastrophe, von deren Ausmaß wir eine leise Ahnung bekommen, wenn wir die Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit mit denen der offenen Lehrstellen vergleichen, die unbesetzt bleiben, weil ausbildende Betriebe unter den Absolventen des aktuellen Schulsystems keine geeigneten Bewerber finden.
    In der Diskussion um die Einführung der Reformschule scheiden sich die Geister zwischen denen, die zum Umdenken bereit sind, und solchen, die aus der Reformflut der vergangenen Jahrzehnte gelernt haben, dass alles anders wird – aber nichts besser. Und obwohl ich Verständnis für jeden habe, der nach unzähligen Reformen müde geworden ist, plädiere ich lautstark und entschlossen dafür, dass wir auch pädagogisch endlich im 21. Jahrhundert ankommen!
    Während das Kollegium noch diskutiert, erinnere ich mich auf einmal wieder an einen Umstand, den ich manchmal noch vergesse: Ich werde bald Vater sein. Meine Perspektiven auf Schule, Bildung und Gesellschaft haben sich mit der Nachricht über Sarahs Schwangerschaft natürlich schlagartig verändert, man könnte auch sagen: verschärft. Nun stehe ich vor der Situation, mein Kind schon bald in die Hände dieser Gesellschaft zu geben. Und weil auch das Einzugsgebiet unserer Wohnung sehr, sagen wir mal: durchwachsen ist, ist die Möglichkeit, mein Kind auf eine Schule wie diese zu schicken, verdammt real geworden.
    Ich stelle mir vor, wie das kleine Wesen, um das sich Sarah und ich mehrere Jahre sorgsam gekümmert, das wir gehegt und gepflegt und wie unseren Augapfel beschützt, dem wir beim Laufenlernen zugeschaut und beim Sprechenlernen zugehört haben, mit dem wir gelacht und geweint, mit dem wir Geburtstage gefeiert und das wir durch Krankheiten begleitet haben, wie dieses kleine Wesen in sechs Jahren durch die schmutzigen Hallen eines trostlosen Schulgebäudes läuft. Wie es versiffte Toiletten benutzen muss, von frustrierten und ausgebrannten Lehrern unterrichtet und von dissozialen Mitschülern beschimpft und geschlagen wird. Ich male mir aus, wie unser Kind nach und nach den Spaß am Lernen, die Neugier, den Entdeckungsdrang und die Kreativität verliert. Als ich mir schließlich durch den Kopf gehen lasse, wie unser Kind irgendwann nach Hause kommt und sagt: »Dings, Papa, isch geh Schwimmbad! Gebe mal Geld, du Opfer!«, läuft mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Ich bin kurz davor, meinen Mietvertrag per E-Mail zu kündigen und für mich und meine kleine Familie eine Wohnung in Zehlendorf oder Prenzlauer Berg zu suchen. Alles, denke ich mir, alles nur, damit mein Kind nicht einer solchen Welt ausgesetzt ist, mit der ich mich hier täglich herumschlage.
    Es ist erschreckend, denn all die Gedanken, die mir jetzt durch den Kopf jagen, sind höchst elitär. Wie es bei Perspektivwechseln nun mal so ist, ist auch meine anstehende Vaterschaft mit einem erstaunlichen Erkenntnisgewinn verbunden. Auf einmal habe ich vollstes Verständnis für all die Eltern, die nach den ersten Monaten an unserer Schule alles daran setzen, um ihr Kind auf eine andere Schule zu bekommen. Nicht, weil die Lehrer alle mies wären, die Schulleitung die Situation trotz aller Bemühungen nicht in den Griff bekommt oder die Aula nach vergammeltem Blumenkohl riecht, sondern weil sie traurig und angsterfüllt sind. Traurig darüber, dass ihr Kind immer wieder frustriert nach Hause kommt und weil bei Elternabenden und Gesprächen mit der Klassenlehrerin schnell klar wird, warum das Lernpensum der Klasse so gering ist. So entwickelt sich bei ihnen vermutlich die Angst, ihr Kind würde schnell den Anschluss verlieren und im Vergleich zu Kindern an anderen Schulen immer krasser hinterherhinken.
    Während meiner erschreckenden Gedanken läuft die Diskussion um die Reformschule immer noch so unsachlich und hysterisch weiter, wie sie bereits begonnen hat, und endet irgendwann auch genauso ergebnislos und frustrierend, was ich im Protokoll mit folgenden Worten zusammenzufassen versuche: Der bereits erfolgten Entscheidung für die Teilnahme am Projekt Reformschule stehen noch immer viele kritische Stimmen entgegen.
    Als der Rummel vorbei ist, beglückwünscht Frau Juhnke mich und die anderen frischgebackenen Mitglieder der Erweiterten Schulleitung. Danach bittet sie mich ins Sekretariat. Auf dem Weg dorthin komme ich mit unserem neuen Konrektor, der sich wie vermutet als netter

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