Isch geh Schulhof: Erfahrung
hier aktuell stattfindet, stammt schließlich aus einer ganz anderen Zeit und hat sich in einer völlig anderen Form der Gesellschaft entwickelt. Die Idee, alle Kinder einer Klasse wären um acht Uhr motiviert, Deutsch, und um zehn Uhr gierig darauf, Mathe zu lernen, entspringt einem Verständnis für die menschliche Natur, das spätestens seit den bahnbrechenden Erkenntnissen der Hirnforschung vollkommen überholt ist.
In der Uni habe ich gelernt, dass einige Philosophen dieses Menschenbild Tabula rasa nennen, was übersetzt nichts weiter als ›unbeschriebene Tafel‹ oder auch ›leeres Blatt‹ bedeutet. Es geht auf die Vorstellung zurück, alle Menschen wären von Geburt an identisch und ihre Persönlichkeit würde sich ausschließlich durch die Erfahrungen ausbilden, die sie im Laufe ihres Lebens machen. Diesen phänomenalen Unsinn vermittelte beispielsweise der Psychologe John B. Watson, indem er tatsächlich behauptete, er könne – ohne Rücksicht auf die individuellen Begabungen, Neigungen und Fähigkeiten – jedes Kind zu einem Spezialisten in jedem beliebigen Fachgebiet erziehen. Für Watson waren Menschen also so etwas wie genormte CD -Rohlinge, die bei ihrer Geburt in ihrem neurologischen Aufbau gleich sind und daher mit jeder beliebigen Software bespielt werden können.
Diesem Unsinn entsprechend gestaltet sich auch der Aufbau unseres Schulsystems: gleiche Lehrkonzepte für alle, gleiche Lehrbücher, gleiche Stundenpläne, gleiche Klassenarbeiten, gleiche Anreize und gleiche Strafen. Auch die Vermutung, Kinder im gleichen Alter würden sich auf gleichen Entwicklungsstufen befinden, geht aus diesem falschen Menschenbild hervor. Auf die unterschiedlichen Voraussetzungen, mit denen viele Kinder eingeschult werden, kann ein solch starres System natürlich keineswegs adäquat reagieren.
Wenn ich es richtig verstanden habe, soll die Idee der Reformschule nun genau diese Strukturen aufbrechen. Sie soll Kindern die Möglichkeit bieten, sich ihrer individuellen Vorlieben und Abneigungen, ihrer Stärken und Schwächen entsprechend zu entwickeln. Die Lehrer einer solchen Schule sind nicht mehr reine Wissensvermittler, sondern werden zu Gastgebern in einer lernfreundlichen Umgebung.
Das bisherige Schulsystem, so ist zumindest mein Eindruck, serviert Kindern Einsichten und Erkenntnisse wie ein schlechtes Essen, das sie zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder hochwürgen und erbrechen müssen, um es daraufhin für immer aus ihrem Kopf zu streichen. Es produziert Kinder, die auf die Frage, wie alt der Kapitän eines Schiffs mit vier Schafen und acht Ziegen an Bord sei, »Zwölf!« antworten. Tatsächlich gibt es Untersuchungen über die Kreativität von Kindern, die zu dem Ergebnis kommen, dass die Bereitschaft, über bestimmte Konventionen hinaus zu denken, mit jedem Jahr in der Schule abnimmt. Und noch ein weiteres Gewächs scheint bei Kindern mit jedem Schultag mehr zu verwelken: die Neugier. Dieser leistungsstarke Motor für Entwicklung und Lernerfolg wird nicht selten von Klasse zu Klasse so stark gedrosselt, dass er bei vielen Kindern irgendwann kaum noch anspringt.
Unser Schulsystem schafft also ein Lernumfeld, von dem sich ohne Weiteres behaupten lässt, dass Kinder trotz Schule etwas lernen – nur eben meistens außerhalb.
Die Bereitschaft vieler Schulleiter und Lehrer, ihre Arbeitsweise, ihre pädagogischen Grundüberzeugungen, ja sogar ihr gesamtes Menschenbild zu ändern, so scheint es mir zumindest, ist jedoch gering – was mich vor dem Hintergrund ihrer inhaltlichen und emotionalen Arbeitsbelastung kein bisschen wundert.
Anders ausgedrückt: Die verkrusteten Strukturen des bisherigen Schulsystems sind nicht ansatzweise in der Lage, den pädagogischen, psychologischen und soziologischen Anforderungen unserer multi-ethnischen Wissens- und Informationsgesellschaft gerecht zu werden. Stattdessen schafft Schule das, was sie eigentlich verhindern soll: einen Graben zwischen Arm und Reich, zwischen dumm und klug, zwischen erfolglos und erfolgreich.
Dass ein derart überfordertes System das Falsche mit erschreckender Präzision richtig macht, ist dabei nicht weiter verwunderlich, und so manifestiert sich genau hier und heute, in der Aula der Ludwig-Feuerbach-Schule, die große Frage, vor der große Teile des gesamten deutschen Schulsystems stehen: Reagieren wir unter größter Anstrengung endlich auf die veränderten Bedingungen, unter denen Schule heute stattfindet, oder belassen wir alles beim Alten
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