Isch geh Schulhof: Erfahrung
darf – weder über ihre Lebensweise noch über ihre Sexualpartner, ihre Kleidung oder ihren Beruf.
Einige Schüler wirken darüber regelrecht empört, aber das ist mir egal. Wenn es um die allgemeine Gültigkeit der Menschenrechte geht, bin ich zu keinem Kompromiss bereit – vor allem nicht bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen.
In der letzten Viertelstunde kümmern wir uns dann im Schnelldurchlauf um die Basics der menschlichen Anatomie, den Prozess des Erwachsenwerdens und den Vorgang der Geburt. Das war auch bitter nötig, denn einige von den Jungs haben davon so viel Ahnung wie ein Schwein vom Eierlegen. Am Ende der Stunde wissen dann auch wirklich alle, dass der Penis kein Knochen ist und aus welcher der weiblichen Körperöffnungen die Kinder kommen.
Ist doch immerhin ein Anfang.
22
Miss November und der Dilettantismus
A ls Zweitlehrer fühle ich mich manchmal wie ein Praktikant, was damit zusammenhängt, dass ich während der Stunde gerne zum Kopieren geschickt werde. Aber das gehört für einen Quereinsteiger vermutlich dazu. Auf meinem heutigen Weg, der mich durch die leer gefegten Gänge unserer Schule zum Kopierer führt, werde ich Beobachter einer sehr aufschlussreichen Szene.
Frau Herrmann, die Klassenlehrerin einer JÜL -Gruppe, sitzt mit zwei Schülerinnen an einem Tisch auf dem Flur und schaut ihnen verträumt dabei zu, wie sie Mandalas ausmalen. Dabei hockt sie zurückgelehnt auf einem Kinderstuhl, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände in den Hosentaschen, und gibt nacheinander wahllos wirkende Kommentare wie »Ach super!« oder »Das ist aber toll.« von sich. Auf mich wirkt Frau Herrmann schon immer ein wenig abwesend. Sie ist relativ jung, vermutlich Mitte vierzig, und lächelt immer, wirklich immer – und immer gleich. Es ist dieses sanfte Lächeln, von dem ich bis heute nicht weiß, ob es von Zufriedenheit oder Verrücktheit zeugt. Dazu blinzelt sie oft und sehr lange. Insgesamt gehört Frau Herrmann zu den eher langsam agierenden Exemplaren unserer Spezies. Alles, was sie tut, wirkt auf mich wie in Zeitlupe. Dazu passen ihre weiten Klamotten und ihr schlendriger Gang. Von meinen Kollegen weiß ich, dass Frau Herrmann bereits mehrere Dauerkrankschreibungen hinter sich hat, allein lebt und sich zurzeit um ihre schwer kranke Mutter kümmert. Wegen ihrer geringen Belastbarkeit setzt Frau Juhnke sie neben ihrer Tätigkeit als Klassenlehrerin ausschließlich als Zweitlehrerin ein. Dort wird sie von den Kollegen dann mit der Betreuung einzelner Schüler oder kleiner Gruppen beauftragt, wahrscheinlich aus Rücksicht. Chrissi, die stets bestens informiert ist, formulierte ihre Position dazu vor Kurzem sehr deutlich.
»Frau Herrmann ist echt ’ne nette Frau – aber an der Schule eigentlich zu nichts mehr zu gebrauchen.«
Im gesamten Kollegium ist es ein offenes Geheimnis, dass Frau Hermann ihre Klasse überhaupt nicht im Griff hat, und von den Kindern hört man, sie würden bei ihr fast nur Bilder ausmalen oder spielen. Es tut mir natürlich leid, dass sie so überfordert ist, aber ich frage mich, warum so eine Frau überhaupt noch als Lehrerin arbeiten darf.
Als ich mich dem Tisch auf dem Flur nähere, malen die Mädels unbeirrt weiter, während Frau Herrmann zusammenzuckt, als ich sie grüße. Ich erwidere ihr sanftes Lächeln und gehe kommentarlos weiter.
Hinter mir höre ich, wie sie die Mädchen fragt: »Also, ihr beiden, wollen wir jetzt wieder reingehen?«
So wird das bestimmt nichts, aber das ist nicht mein Problem!
Während der Kopierer seine Arbeit erledigt, werfe ich einen Blick auf den Vertretungsplan und entdecke dabei, dass ich heute als Zweitlehrer in Frau Hermanns Klasse eingeteilt bin.
»Das kann ja was werden«, flüstere ich vor mich hin. Solche lehrertypischen Selbstgespräche sollte ich mir schleunigst wieder abgewöhnen. Dieses leicht verrückte Phänomen habe ich inzwischen bei so vielen Kollegen festgestellt, dass ich Geierchen gebeten habe, mir in den Hintern zu treten, sollte ich in seiner Gegenwart einmal damit anfangen. Seitdem weiß ich, dass seine Stiefel ganz schön spitz sind.
Auf meinem Rückweg wundere ich mich nur wenig darüber, dass die Mädels und Frau Herrmann immer noch auf dem Flur sitzen. Als sie mich erblickt, fällt ihr etwas ein.
»Vielleicht hat der Herr Möller ja eine Idee, wie wir euch dazu motivieren können, wieder in die Klasse zu gehen.«
Bei ihrem Sprechtempo hat dieser Satz sicherlich dreißig Sekunden
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