Isch geh Schulhof: Erfahrung
Mohammed, der sein Käppi auf der Spitze des Kopfs trägt und zu den Typen gehört, mit denen ich mich jedes Mal im Bus anlegen möchte, weil er mit seinem Handy laut Musik hört. Auch er bekommt von mir ein Stück Kreide und auf dem Weg zur Tafel seine Kopfbedeckung abgenommen. So gehen wir die von meiner Kollegin vorbereiteten Begriffe durch, die die Jungs relativ zielsicher den richtigen Kategorien zuordnen können. Beim Befüllen der Kategorie Beleidigung muss ich sie in ihrer Kreativität zwar etwas bremsen, aber ansonsten verläuft dieser erste Teil ohne weitere Zwischenfälle.
Das ändert sich allerdings, als Julian, ein sehr zurückhaltender Junge aus dem hinteren Teil der Klasse, den Begriff Homosexualität zuordnen soll. Die Machos aus den ersten Reihen brechen in schallendes Lachen aus und rufen ihn bei einem Spitznamen, den sie ihm offensichtlich schon vor längerer Zeit verpasst haben: Julian-Schwulian. Als er mit hochrotem Kopf an der Tafel ankommt und den Begriff in der Kategorie biologische Bezeichnung einsortieren will, korrigiert ihn Dragan lauthals: »Aber das is doch eine Beleidigung!«
Auf diesen Moment habe ich nur gewartet. Ich warte ab, bis Julian wieder auf seinem Platz angekommen ist, lasse dann Ruhe einkehren und setze mich mit verschränkten Armen auf den Lehrertisch. Dann schaue ich Dragan fest in die Augen und frage ihn, ob er überhaupt wisse, was Homosexualität sei.
»Dis heißt schwul sein«, erklärt er mir. »Also wenn ein Mann einen anderen Mann ein Arschfick macht – und das is verboten!«
In der Widerlegung dieser These bin ich ja mittlerweile geübt, also erkläre ich ihm, dass es kein Verbrechen ist, weil es beim freiwilligen Sex zwischen zwei gleichgeschlechtlichen Partnern keine Opfer gibt. Das verstehen die Jungs relativ schnell. Dann schreibe ich das Wort Schwuchtel in die Kategorie Beleidigung und schärfe den Jungs ein, dass ich für dieses Wort Hofreinigungsstunden verteile. Auch das kapieren sie, und so rufe ich eine kurze Pause aus, um die Tafel für unser nächstes Thema vorzubereiten: Pornos.
Als ich mich wieder umdrehe, sind die zwei Chef-Machos der Gruppe schon sehr praxisorientiert dabei. Mohammed hockt auf allen vieren auf seinem Tisch und imitiert lautes Frauenstöhnen, während Dragan hinter ihm kniet und so tut, als würde er ihn laut ächzend von hinten nehmen. Ich stelle mich neben die beiden, stütze meine Hände in die Hüften und nicke anerkennend, bis sie mich entdecken.
»Wir wollten nur zeigen, wie Doggy-Style geht«, erklärt Mohammed.
Mit einer gehörigen Portion Ironie lobe ich die beiden und freue mich insgeheim über die gelungene Überleitung. Als ich wieder vor der Tafel stehe und gerade beginnen möchte, erreicht mich schon die erste Frage.
»Hast du schomma ein Porno geguckt, Herr Mülla?«, will Dragan wissen.
Ich überlege kurz, wie ich darauf reagieren soll, doch bei einer solchen Frage gilt offensichtlich schon die kürzeste Verzögerung als Antwort. Während mein Kopf ein wenig rot wird, brechen sogar die schüchternen Jungs aus den hinteren Reihen in lautes Gelächter aus. Nach ein paar Momenten der ungezügelten Freude bremse ich die Klasse, indem ich Kreidestückchen verteile und die Schüler darum bitte, sämtliche Porno-Websites an die Tafel zu schreiben, die sie kennen. Wollen wir doch mal schauen, wie weit diese Sechstklässler schon in die Tiefen des virtuellen Sex-Dschungels vorgedrungen sind.
Die Beteiligung an der Übung ist rege, und die Sammlung, die dabei entsteht, erstaunlich. Eine Schultafel besteht ja immerhin aus insgesamt sechs Quadratmetern, und als die Jungs sich nach einigen Minuten setzen, sind kaum noch freie Stellen zu finden. Zeit, meinen roten Faden zu verlieren.
»Da staunst du, wa, Herr Mülla?«
Allerdings.
Was nun? Die Verfügbarkeit nichtjugendfreier Inhalte für Kids diesen Alters stellt in der Tat eine krasse medienpädagogische Herausforderung dar. Es ist ja schließlich nicht so, dass man einen Altersnachweis braucht, um eine solche Website aufzurufen. Was empfinden Kinder und Frühpubertäre beim Betrachten derlei Bilder wohl? Wie erklärt man ihnen, was dort vor sich geht? Oder klären sie sich ganz einfach selbst auf, indem sie sich im Alter von zwölf Jahren Analverkehr in Full- HD anschauen?
Weil mir genau solche Fragen gestern Abend schon unter den Nägeln brannten, las ich mir die Ergebnisse einer Befragung von Elf- bis Dreizehnjährigen durch, die im Auftrag einer Organisation
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