Isegrim
ist.
Mit fliegendem Atem komme ich beim Haus der Scherers an, lehne mein Rad gegen die Hauswand und klingele Sturm. Ich klopfe gegen die Haustür und hämmere schlieÃlich mit der Faust dagegen. Als niemand hört, laufe ich ums Haus herum in den Garten.
Agnes kniet in einem Beet und sät etwas aus. »Jola«, ruft sie überrascht, »was ist denn passiert? Du siehst ja ganz aufgelöst aus.«
Aufgelöst â ja, das ist das passende Wort. Ich habe das Gefühl, dass sich alles auflöst. Das ganze wunderbare Gewebe der vergangenen Tage.
»Ich muss mit Ihnen reden«, stoÃe ich keuchend hervor. »Ãber Alexander.«
Agnes steht auf und reibt sich die Hände an ihrer Gartenhose sauber. »Alexander?« Die Bestürzung in ihrem Gesicht macht mir Angst. »Woher kennst du Alexander?«
»Aus dem Wald.«
Agnes fasst sich ans Herz. Für einen Moment fürchte ich, sie könnte zusammenbrechen, so stark wankt sie. Doch dann hat sie sich wieder in der Gewalt.
»Gehen wir ins Haus, ja? Ich brauche einen Schluck Wasser.«
Ich folge ihr in die Küche, wo sie sich die Hände wäscht und uns beiden ein Glas Wasser auf den Tisch stellt, bevor sie sich auf einen der Stühle fallen lässt. Ich setze mich auf die Eckbank, hole den vergilbten Zeitungsartikel aus der Hosentasche, falte ihn auseinander und lege ihn vor Agnes auf den Tisch.
Ich schaue in ihr Gesicht, warte auf eine Reaktion.
»Woher hast du den, Mädchen?«
»Von ihm.« Ich tippe auf Olek.
Agnes schüttelt unmerklich den Kopf, ihre Hände streichen zitternd über den Zeitungsartikel. »Alexander.«
»Jetzt nennt er sich Olek.«
»Olek, das ist die polnische Variante von Alexander.«
»Er ist Ihr Enkel.« Ich zeige auf das Foto im Küchenschrank. Immerhin, was seinen Namen angeht, hat er nicht gelogen.
Agnes greift nach einem Päckchen Papiertaschentücher, das auf dem Tisch liegt, holt eines heraus und schnäuzt sich.
»Ja und nein«, sagt sie schlieÃlich.
»Wie meinen Sie das?«
»Meine Tochter Brigitta ⦠nun, Alexander ist nicht ihr leiblicher Sohn. Sie hat ihn adoptiert.«
»Adoptiert?« Olek ist der Adoptivsohn von Agnesâ Tochter. Dann ist Agnes so etwas wie seine Adoptivoma und es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass er auf seiner Wanderung ausgerechnet im Wald hinter ihrem Dorf gelandet ist.
»Ist er schon mal hier gewesen, bei Ihnen?«
Agnes nickt. »Das Foto, es wurde vor unserem Haus aufgenommen. Das war vor fünf Jahren.«
Die Gedanken wirbeln wie aufgescheuchte Wespen durch meinen Kopf. »Was ist mit dem Mädchen?«
»Kamila, meine Enkeltochter, sie ist tot.«
»Was ist passiert? Bitte, ich muss es wissen!«
»Er ist tatsächlich hier?«
»Ja, in einer Höhle im Wald. Er ist der Schuhdieb, der Hühnerdieb.« Der Liebesdieb.
»Das ist eine lange Geschichte, Jola.«
»Die Kurzfassung genügt mir, bitte. Olek und ich, wir â¦Â« Tränen laufen über meine Wangen.
»Du liebst ihn?«
»Ja. Und ich will ihn nicht verlieren.«
»Also gut«, sagt Agnes. »Dann hör dir den zweiten Teil von Tomasz Kaminskis Geschichte an.«
Mit offenem Mund starre ich Agnes an. Was hat Tomasz Kaminski mit Olek zu tun?
»Ich habe dir erzählt, dass Brigitta sich in Polen auf die Suche nach ihrem GroÃvater gemacht hat. Sie fand eine entfernte Verwandte von ihm, die ihr erzählte, dass er geheiratet hatte, aber von einer militärischen Ãbung in Deutschland nicht zurückgekehrt war. Seine Frau war schwanger und bekam ein paar Monate später ein Mädchen, Ewa, meine Halbschwester. Ewa war labil, wurde drogensüchtig und bekam sehr spät einen Sohn, Olek.
Niemand wusste, was aus ihm geworden war. Brigitta suchte nach dem Jungen und fand ihn mithilfe von Marek bei einem Mann auf einem völlig verwahrlosten Bauernhof. Dieser Mann hat den Kleinen ein Jahr lang in einer Hundehütte bei einer Hündin vegetieren lassen.«
Ich schlucke. Will nicht glauben, was Agnes da erzählt.
»Brigitta hat Marek geheiratet, die beiden haben den Jungen adoptiert und nannten ihn Alexander, damit er vergisst, was Olek angetan worden war. Meine Tochter war damals erst neunzehn, aber sie hat versucht, dem völlig verstörten Jungen eine gute Mutter zu sein. Und Alexander, er hat sie abgöttisch geliebt. Sie hat ihm das Leben gerettet.
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