Isegrim
es.«
»Verschwinde, hörst du?«
»Opa und Kai wollen ihn fangen.«
»Was?«
»Den Dieb, sie wollen ihn in einer Falle fangen. Dann kommt er ins Kittchen.« Sie schnieft.
Kurz schlieÃe ich die Augen. Das darf nicht wahr sein. Kai hat seinem Vater von Olek erzählt. Ich schiebe weiter.
»Ich will mit«, kreischt Elli und stampft mit dem Fuà auf. »Ich will mit. Ich will mit.«
Ich muss mich zusammennehmen, um sie nicht anzuschreien. »Das geht aber nicht, Elli«, sage ich, so ruhig es mir noch möglich ist.
»Warum nicht?«
»Weil es nicht geht, basta. Komm mir nicht nach, hörst du! Fahr nach Hause zu deiner Oma.«
Ich steige in den Sattel und fahre los. Als ich mich nach ein paar Metern umdrehe, sehe ich, dass Elli mir folgt. Da ist es vorbei mit meiner Beherrschung. Ich springe ab und lasse mein Rad ins Gras fallen. In zwei Schritten bin ich bei ihr, packe ihren Lenker. »Welchen Teil von Komm mir nicht nach! hast du nicht verstanden, Elli? Verschwinde, du kleine Kröte, sonst frisst dich der böse Wolf«, schreie ich sie völlig entnervt an.
Mit schnellen Schritten bin ich wieder bei meinem Rad, steige in den Sattel und trete wie eine Wahnsinnige in die Pedale, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. Pa wird mich in der Luft zerreiÃen, wenn er herausbekommt, dass ich im Wald war, dass ich Ma alleine gelassen habe. Aber das ist mir vollkommen egal. Ich muss Olek warnen. Kai und sein Vater wollen ihm eine Falle stellen, das kann ich nicht zulassen.
Völlig durchgeschwitzt erreiche ich den Brombeerfelsen. Doch Olek ist nicht da und ich habe keine Ahnung, wo er sein könnte. Das Beste wird sein, in der Höhle auf ihn zu warten. Irgendwann muss er schlieÃlich zurückkommen.
Ich setze mich auf sein Lager und warte. Gegen die Hitze drauÃen ist die Temperatur in der Höhle angenehm. Langsam beruhigt sich mein Herz, ich bin wieder in der Lage, klar zu denken. Ich will ihn behalten, meinen Dieb, aber der Preis dafür ist, dass er hier verschwinden muss. Nur für eine Weile. Bis die Wogen sich geglättet haben. Bis er volljährig ist und nicht mehr in ein Heim gesteckt werden kann. Bis die Leute von Altenwinkel den Dieb vergessen haben.
Die Zeit verrinnt, doch Olek kommt nicht. Ist er fort? War die vergangene Nacht sein Abschiedsgeschenk? Frostige Finger legen sich um mein Herz und drücken zu. Nein, wehrt es sich. Olek würde nicht gehen, ohne sich zu verabschieden. Oder doch? Weil es Worte spart? Weil es einfacher ist? Nein, sagt das Herz.
Um mich abzulenken, lange ich wahllos nach einem Buch aus Oleks Bibliothek. Grimms Märchen. Ich setze mich auf den Steintisch ins Licht, klappe die Seite auf, in der ein Stück Zeitung als Lesezeichen steckt, und beginne zu lesen: Da waren alle drei vergnügt: Der Jäger zog dem Wolf den Pelz ab und ging damit heim, die GroÃmutter aà den Kuchen und trank den Wein, den Rotkäppchen gebracht hatte, und erholte sich wieder. Rotkäppchen aber dachte: Du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Wege ab in den Wald laufen, wenn dirâs die Mutter verboten hat.
Och nö. Ich will das Buch gerade zuklappen, als mir auf dem vergilbten Stück Zeitung ein Foto ins Auge sticht. Ich falte das Zeitungspapier auseinander. Es ist ein ausgeschnittener Artikel aus einer polnischen Zeitung. August 2007 steht oben auf der Seite und unter einer fetten Schlagzeile sind zwei farbige Fotos abgedruckt. Eines zeigt ein etwa achtjähriges blondes Mädchen, das mit einem Engelslächeln in die Kamera blickt. Kamila Nowak steht darunter. Auf dem anderen Foto ist ein etwa dreizehnjähriger Junge mit kurzem hellbraunem Haar zu sehen.
Olek, kein Zweifel. Auch wenn Alexander Nowak darunter steht. Auf einmal habe ich das Gefühl, als würde der Boden unter mir wanken. Denn ich weiÃ, wo ich die beiden schon einmal gesehen habe: auf einem Familienfoto in Agnes Scherers Küche. Ich bin mir ganz sicher. Dieses blonde Mädchen, Kamila, ist Agnes verunglückte Enkeltochter.
Die Fotos verschwimmen vor meinen Augen. Du hast mich belogen, Olek. Du hast eine Mutter und einen Vater. Und du hattest eine kleine Schwester. Was hast du getan? Was ist dein dunkles Geheimnis, Alexander Nowak?
Ich falte den Zeitungsartikel zusammen, schiebe ihn in meine Hosentasche und verlasse fluchtartig die Höhle. Ich muss zu Agnes, ich muss wissen, was mit ihrer Enkeltochter passiert
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