Isegrim
Ehe sich Verlegenheit breitmachen kann, beugt Kai sich zu mir herüber und küsst mich. Es ist ein sanfter und doch fordernder Kuss, und ohne dass ich es will, bekomme ich weiche Knie. Ich erwidere den Kuss, bis Kais Hand unter mein T-Shirt wandert.
»Hey«, sage ich, trete einen Schritt zurück und schaue mich um, ob jemand uns beobachtet.
Magnus, der Sohn von Tischlermeister Grimmer, kommt mit einem Baumstamm auf der Schulter um die Ecke getrottet. Mit seiner schwarzen Strickmütze, dem karierten Hemd und seinen ewigen Hochwasserhosen sieht er viel älter aus, als er eigentlich ist. Jeder im Dorf weiÃ, dass er die Klamotten seines Vaters und seines Onkels abtragen muss, was nicht wirklich fair ist, aber billig.
Magnus ist Mitte dreiÃig, ein groÃer Mann mit starken Händen. Er war als Kommandeur im Krieg in Afghanistan, bis er mit seinen Soldaten bei Kunduz in einen Hinterhalt der Taliban geriet und von einem Granatsplitter schwer am Kopf verletzt wurde.
»Oh, du lieber Augustin, Augustin, Augustin«, brummelt er, als er an uns vorbeiläuft, »oh, du lieber Augustin, alles ist hin.«
»Wann?«, fragt Kai, mit einem verzweifelten Unterton in der Stimme.
Es dauert einen Moment, bis ich begreife.
Ich lege den Zeigefinger auf seine Brust und sage: »Wenn du wieder da bist, okay? Bei mir.« Vielleicht hat Tante Lotta recht und Ãbung macht den Meister. Vielleicht haben wir beim zweiten Mal mehr davon. Vielleicht läuten wenigstens die Glocken, wenn der Mond schon nicht seine Umlaufbahn verlässt.
»Aber deine Mutter â¦Â«
»Mach dir um Ma keine Gedanken«, sage ich lächelnd und denke: Mit Pa scheint er sich ja schon einig zu sein.
Ich drücke ihm einen Kuss auf die Lippen. »Bis Montag am Bus und viel Spaà in Berlin. Grüà Johanna und Elli von mir. Wird bestimmt ein tolles Wochenende.«
Nachdem ich ein paar Schritte in Richtung Haus gegangen bin, drehe ich mich um. Kai steht noch immer in der Einfahrt. Ich winke ihm zu und er winkt zurück. Er wirkt unglücklich und ich weiÃ, dass es nicht daran liegt, dass er am Wochenende nach Berlin fahren und babysitten muss.
In meinem Zimmer rufe ich zuerst Saskia auf ihrem Handy an und erzähle ihr, was ich erfahren habe.
Sie ist begeistert von meinem Bericht â und bleibt natürlich bei der Geschichte über die Ermordung des Soldaten an der Blutbuche hängen. »Echt krass«, meint sie. »Ich verstehe allerdings nicht, warum Marie dir die Namen der Männer verschwiegen hat. Die Geschichte ist eine halbe Ewigkeit her und vermutlich sind sie alle längst tot und begraben. Wenn stimmt, was sie sagt.«
Was soll denn das jetzt? Ich beschlieÃe, Sassys letzten Satz zu ignorieren. »Tja, meine Liebe«, sage ich, »so kann nur eine reden, die nicht in Altenwinkel aufgewachsen ist. Mit groÃer Wahrscheinlichkeit leben die Kinder und Enkel der Männer noch im Dorf und Marie hat die Namen deshalb verschwiegen. Sie ist eben nicht wie die Neumeister, die alte Hexe, die jede Gelegenheit nutzt, um Unfrieden unter den Dorfbewohnern zu stiften.«
»Das kann man sehen, wie man will«, erwidert Saskia. »Wenn mein Opa ein Mörder war, würde ich es wissen wollen.«
Mir wird schlagartig kalt und wieder sehe ich das Foto meines GroÃvaters August in seiner Försteruniform vor mir. Wenn mein Opa ein Mörder war, würde ich es wissen wollen. Saskias Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf, nachdem wir aufgelegt haben. Meine Freundin ist fein raus, sie hat keine Wurzeln in Altenwinkel, so wie Kai und ich.
Soweit ich weiÃ, ist einer von Kais GroÃvätern gegen Ende des Krieges gefallen und der andere erst ein paar Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft ins Dorf zurückgekehrt. Mein Opa August, der Förster, war jedoch im Dorf, das Foto im Maries Album ist ein eindeutiger Beweis dafür. Und er atmet seit einigen Jahren Radieschen. Hat Marie mir die Namen der Männer deshalb nicht genannt? Weil mein Opa August zu ihnen gehörte? Hatte er ein Auge auf Marie geworfen und den amerikanischen Soldaten aus Eifersucht getötet? Bin ich die Enkelin eines Mörders?
Was für ein irrwitziger Gedanke, doch er lässt mich nicht mehr los. Bis zum Abendessen sind noch anderthalb Stunden Zeit, ich beschlieÃe kurzerhand, einen Abstecher zum Friedhof zu machen und meine Vorfahren zu besuchen, etwas, das ich schon sehr lange nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher