Isegrim
zwei Reihen weiter, neben dem seiner Frau Hanne, befindet sich das Grab von Martin Sievers.
Tante Lotta hat mir erzählt, dass das Paar nach der Wende ins Dorf gezogen ist und von Anfang an sehr zurückgezogen gelebt hat. Die beiden blieben kinderlos, nur Martin Sieversâ Neffe Tobias kam immer mal zu Besuch. Ich kann mich vage an Hanne Sievers erinnern, eine zierliche Frau mit kastanienbraunen Haaren und einem warmherzigen Lächeln. Nach ihrem Tod (sie starb elend an Krebs), habe ich ihren Mann kaum noch im Dorf gesehen â bis die Sache mit Alina passierte.
Die Altenwinkler empörten sich furchtbar darüber, dass all die Jahre ein Kinderschänder in ihrer Mitte gelebt hatte. »Als ob ihnen von nun an ein kollektiver Makel anhaften würde«, war Tante Lottas abfälliger Kommentar. Einige aus dem Dorf wollten ihm sogar die letzte Ruhestätte neben seiner Frau verweigern, doch Pfarrer Kümmerling scherte sich nicht um die Leute und beerdigte Sievers auf dem Altenwinkler Friedhof.
In meiner Verwirrung stottere ich ein paar zusammenhanglose Silben, als die Neumeister plötzlich zischt: »Vielleicht war erâs ja gar nicht.«
»Was?« Entgeistert starre ich sie an. Ich habe nicht die geringste Lust, mit der alten Hexe zu reden, doch mein Unterbewusstsein ist schneller als ich. »Wer sagt das?«
Mit ihren ausgetretenen Schuhen trippelt sie an mich heran. Tonia hat einen leichten Buckel, aber sie geht nicht krumm. Der Geruch von gekochtem Kraut und Mottenkugeln lässt mich einen Schritt zurückweichen.
»Niemand sagt was. Aber der Jung von dem Sievers, der hat verdorbenes Blut in den Adern. Mit dem stimmt was nicht.«
Mit »der Jung« meint sie ohne Zweifel Tobias Zacke, der ein paar Wochen nach der Beerdigung seines Onkels in das einsam liegende Haus (das Mörderhaus) am Dorfrand zog und seitdem dort skurrile Metallskulpturen herstellt, die er als Kunst bezeichnet.
Die Dorfbewohner nennen die Gebilde »Schrotthaufen«. Ich kenne nur die eine Figur, die neben seinem Tor steht: ein monströses Fabeltier mit langen Krallen und Säbelzähnen. Ich habe keine Ahnung, ob das Kunst ist oder nicht, mir ist das lebensgroÃe Ding schlichtweg zu hässlich.
Dass die Neumeister ihm jetzt den Mord an Alina anhängen will, ist echt der Hammer! Tobias war damals erst siebzehn. Und obwohl er immer wieder eine Zeit lang bei seinem Onkel lebte â als das mit Alina passierte, war er in Italien, das weià ich von Kai.
Die Kirchturmuhr schlägt dreimal, es ist Viertel vor sieben und ich muss los, um nicht zu spät zum Abendessen zu kommen. Ich lasse die spinnerte Alte einfach stehen und mache mich vom Totenacker. Auf dem Kirchplatz laufe ich Rudi Grimmer in die Arme, der auf der Suche nach seinem Neffen ist. Rudis Hosen werden von breiten Hosenträgern mit Streifen gehalten, ein paar pomadig glänzende Haarsträhnen sind kaschierend über seine Glatze geklebt.
»Er war auf dem Friedhof«, sage ich, »ist aber schon eine Weile her.«
In Gedanken versunken, trabe ich durch eine schmale Gasse auf die DorfstraÃe. Was soll der Mist von wegen verdorbenes Blut? Gibt die alte Hexe denn niemals Ruhe?
In den ersten Tagen nach Alinas Verschwinden haben meine Eltern mich in Watte gepackt, aber nach und nach erreichten die Gerüchte, die Tonia Neumeister damals im Dorf verbreitete, auch mich. Zuerst hatte sie behauptet, Magnus Grimmer wäre interessiert an kleinen Mädchen und habe Alina schon immer verliebt angesehen. Vor Afghanistan, als Magnus noch alle Tassen im Schrank hatte. Heute klingt es wie ein schlechter Scherz, aber Ma hat mir erzählt, dass Magnus einmal der begehrteste Junggeselle von Altenwinkel war und der Traum jeder Schwiegermutter.
Als Nächstes versteifte Tonia sich auf Hubert Trefflich, der â von seiner Frau eines Nachts sang- und klanglos verlassen â schon seit Jahren alleine in seinem heruntergekommenen Häuschen lebt und mit seinem Gewehr herumstolziert wie ein Gockel. Die alte Hexe behauptete, sie habe Trefflich gesehen, wie er mit Alina geredet und sie dabei angefasst habe.
Am Ende war nicht einmal Alinas eigener Vater vor den bösartigen Anschuldigungen der alten Giftspritze sicher. In einer Fernsehsendung hätten sie gesagt, dass bei Kindstötungen der Täter meistens aus der eigenen Familie stammt. Tonia als Hobbypsychologin, bei diesem Gedanken muss ich beinahe lachen.
Dann
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