Isegrim
fand die Polizei Alinas Kleid und Sievers wurde verhaftet. Tonia lieà sich eine Weile nicht mehr im Dorfladen blicken, bis sich die Wogen geglättet hatten. Und nun, nach so langer Zeit, fängt sie von Neuem mit ihren haltlosen Anschuldigungen an. Warum gerade jetzt? Warum erzählt sie ausgerechnet mir das alles? Erst die alte Geschichte mit dem ermordeten Amerikaner und nun behauptet sie, dass Sievers möglicherweise unschuldig war.
Vielleicht ist das alles nichts als Zufall. Vielleicht ist der alten Neumeister einfach nur schrecklich langweilig. Allerdings, meldet sich eine leise Stimme in meinem Kopf, hat Tonia, was den gemeuchelten Ami anging, offensichtlich die Wahrheit gesagt.
Ohne es richtig zu merken, bin ich zu Hause angekommen, mit meinen Gedanken wieder bei Marie und ihrer Geschichte.
Eine halbe Stunde später erzähle ich Ma und Pa am Abendbrottisch von meinem Besuch bei den Scherer-Frauen und was ich von ihnen erfahren habe. Diesmal habe ich das uneingeschränkte Interesse beider Eltern. Sie geben sich betroffen, aber ich registriere auch die Blicke, die sie einander zuwerfen, wenn sie glauben, ich bemerke es nicht. Wussten sie davon? Ich bin mir nicht sicher. Als Ma und ich das Geschirr in die Spüle räumen, frage ich sie nach der Zigarrenkiste mit den alten Fotos von meinen GroÃeltern. Ma holt die Kiste aus ihrem Arbeitszimmer und reicht sie mir. Als ich sie nehmen will, hält sie sie einen Moment lang fest. Ich warte darauf, dass sie etwas sagt, aber dann überlässt sie mir die Kiste wortlos.
Allein in meinem Zimmer stöbere ich durch die schwarz-weiÃen und sepiafarbenen Fotografien und schaue mir meine GroÃeltern an. Lene und Erwin, die Eltern meiner Mutter, sind erst nach dem Krieg geboren. Uroma Hermine hat mir viel von ihnen erzählt, mehr als Ma es je getan hat. Ich finde es schade, dass ich die beiden nie wirklich kennengelernt habe. Uroma Mine. Sie war zum Kriegsende siebzehn Jahre alt, so wie ich heute. Die weit auseinanderstehenden Augen und das lockige Haar habe ich von ihr geerbt, das erkennt man auf den Fotos ganz deutlich. Ob ihr Haar auch einmal so rötlich geschimmert hat wie meins? Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie sie zuletzt ausgesehen hat, und unvermittelt habe ich den fruchtig-süÃen Duft von Himbeermarmelade und Zimt in der Nase.
Oma Frieda und GroÃvater August. Er war bei Kriegsende einundzwanzig und arbeitete damals in der Munitionsanstalt »Muna« bei Ohrdruf, einer von Hitlers unzähligen Waffenschmieden, das weià ich von Pa. Ich betrachte Opa Augusts freundliches Gesicht und frage mich, was er gesehen und erlebt, was er bis zu seinem Tod vielleicht niemals jemandem erzählt hat.
SchlieÃlich packe ich die Fotos zurück in die Kiste. Ich setze ich mich an meinen Schreibtisch, fahre den Laptop hoch und mache mich daran, die Geschichte vom hinterrücks erstochenen schwarzen Soldaten und dem jungen Polen, der dafür den Kopf hingehalten sollte, aufzuschreiben. Eine tragische Geschichte aus einer Zeit, die nicht mehr Krieg und noch nicht Frieden war. Ich gebe ihr den Titel »Die Wahrheit, das letzte Opfer des Krieges«.
Als ich fertig bin, lese ich den Text noch einmal durch und mache Korrekturen, bis ich zufrieden bin. Das Ergebnis drucke ich aus und schicke es per Mailanhang an Saskia, Kai und Tilman. Danach schlieÃe ich zufrieden mein Schreibprogramm, fahre den Laptop herunter und fasse einen Entschluss. Morgen ist Christi Himmelfahrt, schulfrei, und ich will bei Sonnenaufgang im Wald sein, um nach dem wilden Hund Ausschau zu halten und den Kopf wieder freizubekommen von den schrecklichen Geschichten aus der Vergangenheit.
Als ich meinen Rucksack mit neuen Müsliriegeln bestücke, stelle ich fest, dass mein Opinel-Messer fehlt.
»Mist!« Das Messer muss mir beim oder nach dem Zusammenstoà mit dem Baum aus dem Rucksack gerutscht sein. Vielleicht, als ich die Wasserflasche rausgeholt habe und noch nicht wieder richtig bei Sinnen war. Hoffentlich liegt es noch an der Stelle, an der ich ohnmächtig geworden bin.
Als ich später im Bett liege, flackern am Rand des Schlafes sepiafarbene Bilder von Altenwinkel auf, wie es zum Kriegsende ausgesehen hat. Ein Soldat in Uniform sitzt mit weit aufgerissenen Augen am Stamm der Buche, ein Messer ragt aus seinem Rücken. Und die frühlingsgrünen Blätter des Baumes färben sich blutrot.
* * *
Laurentia, liebe Laurentia
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