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Isegrim

Isegrim

Titel: Isegrim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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getan habe.
    Diesmal halte ich mich links und nehme den geschotterten Weg am Haus der Neumanns vorbei, der auf eine asphaltierte, von kleinen Höfen gesäumte Straße mündet, die zurück zur Dorfmitte führt. Das Grundstück der Architekten hat keinen Zaun und auch keine Hecke, was vermutlich hip ist, deswegen kann man bei Dunkelheit bis ins durchgestylte Wohnzimmer schauen.
    Â»Mä«, macht es. »Mä … mähähä.« Vier Heidschnucken mit schwarzen Köpfen stehen angepflockt auf der Wiese neben dem Haus. Der Bock mit seinem imposant gedrehten Hörnern und den diabolischen Augen starrt mich an, als wäre ich eine Bedrohung für ihn. Ausgerechnet ich, die Vegetarierin.
    Â»Keine artgerechte Haltung«, hat Kai mich neulich aufgeklärt. Schafe dürfen laut Gesetz nicht angepflockt werden. Aber niemanden im Dorf juckt es, was Hagen Neumann mit seinen Schafen anstellt. Tust du mir nichts, tu ich dir nichts: die Zauberformel für das friedliche Miteinander in Altenwinkel.
    Ich laufe an gepflegten Höfen und gestutzten Hecken vorbei, in deren Mitte Hubert Trefflichs Haus auf einem verwahrlosten Grundstück steht, der Schandfleck im Dorf. Hinter der Kirche auf dem Dorfplatz befindet sich der kleine, von einer dicken Bruchsteinmauer umgebene Friedhof. Als ich das Tor öffne, kommt mir erneut Magnus entgegen. Seine Strickmütze und seine alte Jacke sind voller Holzspäne. Er nickt mit einem schiefen Grinsen, ohne sein Liedchen zu unterbrechen, und geht seines Weges.
    Ich sage meiner Uroma Hermine Hallo und meinen Großeltern Lene und Erwin – alle glücklich vereint im Familiengrab, auf dem gelbes Fingerkraut und kleine Glockenblumen blühen. Lene und Erwin habe ich nicht gekannt, aber meine kleine Uroma Mine, die ich zuletzt um einen ganzen Kopf überragt habe, die vermisse ich immer noch.
    Schließlich laufe ich weiter zum hinteren Teil des Friedhofes und besuche Opa Augusts Grab. »Hallo, Opa, hast du was mit dieser schrecklichen Geschichte zu tun?«, flüstere ich und starre den grauen Grabstein an, als könne er mir antworten.
    Und wenn, Jola. Willst du es tatsächlich wissen? Willst du wissen, ob dein Großvater ein Mörder war?
    Da sich keine Stimme aus dem Grab erhebt, um mir eine Antwort auf diese Frage zu geben, laufe ich weiter zwischen den Grabreihen entlang und lese im Vorbeigehen die Namen der Toten. Es sind immer wieder dieselben Familiennamen, die auftauchen: Roland, Schlotter, Maul, Färber, Hartung, Neumeister, Trefflich, Euchler, Arnold, Grimmer.
    Auf Renate »Reni« Grimmers Grab steht ein frischer Strauß Vergissmeinnicht. Reni war die Schwester von Rudi und Hans, sie ist als Kind in der alten Kiesgrube, dem heutigen Badesee, ertrunken. Das Ganze ist fast vierzig Jahre her, aber offensichtlich war Magnus hier, um seiner Tante Blumen aufs Grab zu stellen. Vergissmeinnicht, obwohl er sie gar nicht gekannt hat.
    Es gibt noch zwei Handvoll andere Kindergräber auf diesem Friedhof und eines davon ist leer. Alinas Mutter wollte dieses Grab. Sie möchte ab und zu an einen Ort kommen können, wo sie um ihre Tochter trauern kann.
    Vor dem weißen Granitstein mit einem Foto von Alina bleibe ich stehen. Unter dem Foto, auf dem sie keck in die Kamera lächelt, ist nur ihr Name eingraviert. Vergissmeinnicht blühen auch hier, himmelblau auf ihrem Grab.
    Â»Hallo, Waldfee«, flüstere ich. »Lange nichts voneinander gehört. Wo bist du? Willst du es mir nicht endlich verraten?«
    Eine Antwort bekomme ich nicht. Doch Alinas Foto berührt etwas in mir, es zieht an den Erinnerungsfäden und holt das Gewebe vergangener Tage hervor. Unvermittelt habe ich ihre Stimme im Ohr. Ich kann sie kichern hören, meine Freundin. So als würde sie sich hinter dem Grabstein verstecken und sich eins ins Fäustchen lachen über meine komische Frage.
    Das ist … gruselig.
    Â»Na, junges Fräulein.« Die gekrächzten Worte holen mich aus einer Zwischenwelt, in der ich die Stimme einer Toten hören konnte. Ich fahre herum. Tonia Neumeister, mit räudigem Kopftuch und bunter Kittelschürze, steht direkt hinter mir. Ihre dunklen Augen im wettergegerbten Gesicht funkeln verschlagen. »Ist das nicht geschmacklos«, sagt sie, »hier das Opfer, dort drüben sein Mörder.«
    Ich schnappe nach Luft, aber abgesehen davon, dass unter Alinas Grabstein nichts als Erde ist, hat sie recht. Nur

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