Isegrim
alt. Er und sein Vater mussten als Zwangsarbeiter in den Stollen im Berg schuften. Untergebracht waren sie drüben auf der anderen Talseite in einem groÃen Zeltlager.«
Meine Hand, die das vergilbte Foto der beiden Männer hält, beginnt zu zittern und ich spüre ein unangenehmes Prickeln im Rücken. Im Album sind sonst keine Fotos von Zwangsarbeitern, was hat es also mit den beiden Polen auf sich?
Marie will weitersprechen, doch unter der Last der Erinnerung versagt der alten Frau die Stimme.
»Bist du bereit, Mutter, Jola auch diese Geschichte zu erzählen?« Agnes betrachtet Marie mit sorgenvollem Blick.
Die alte Frau nickt. Sie räuspert sich, holt geräuschvoll Luft und spricht weiter. »Als die Wehrmacht aus Angst vor den heranrückenden Alliierten die Häftlingslager räumte und die Gefangenen auf den Todesmarsch nach Buchenwald schickte, konnten Tomasz und sein Vater aus dem Zeltlager fliehen.
Die beiden versteckten sich im Wald hinter unserem Dorf und beim Holzsammeln, da habe ich sie durch Zufall entdeckt. Die Augen des Jungen waren voller Angst und zehrendem Hunger. Der Vater war so krank und geschwächt, dass er nicht vor mir davonlaufen konnte. Alle drei waren wir furchtbar erschrocken.
Uns Leuten in den Dörfern war es unter Strafe verboten, den Gefangenen aus den Lagern zu helfen. Mitleid zu zeigen, konnte einen Kopf und Kragen kosten. Meine Eltern hatten mir wieder und wieder eingetrichtert, dass die Häftlinge ihre Strafe verdient hätten, dass sie keine vollwertigen Menschen seien.« Marie schüttelt den Kopf. »Aber ich konnte nicht anders, die beiden ausgemergelten Männer dauerten mich. Ich führte sie zu einer versteckten Höhle am Tambuch und brachte ihnen heimlich Decken und gekochte Kartoffelschalen.«
Die alte Frau schlieÃt die Augen. Wie still es auf einmal ist. Einen Moment lang fürchte ich, dass ihre Seele die Erinnerung nicht verkraftet. Doch Marie spricht weiter.
»Und dann war der Krieg vorbei. Dem Todesmarsch entkommene Zwangsarbeiter wie Tomasz und Ignaz waren von einem Tag auf den anderen freie Menschen. Einige arbeiteten wieder für die Bauern auf den Feldern oder als Handwerker in den Dörfern, um sich einen Schlafplatz und ein wenig Brot zu verdienen. Wir alle wollten den Krieg vergessen, so schnell wie möglich. Erst nach ein paar Tagen wagten sich Tomasz und sein Vater ins Dorf, denn Ignaz war inzwischen so krank, dass er einen Arzt brauchte. Aber jede Hilfe von den Amerikanern kam zu spät ⦠Tomasz hingegen erholte sich schnell.«
Marie erzählt, dass er ein geschickter Tischler war und gebraucht wurde, denn an arbeitsfähigen Männern mangelte es in Altenwinkel. Sie waren entweder an der Front gefallen oder noch in Gefangenschaft, so wie der Tischlermeister. Seine Frau gab Tomasz einen Schlafplatz in der Scheune und er arbeitete für sie. Niemand kümmerte sich weiter um ihn, das Schicksal der eigenen Familie sorgte die Leute mehr als das des Fremden.
»Unterdessen wurde Frühling. Es war ein ungewöhnlich heiÃer Frühling, die Kirschen blühten schon Ende April. Wir bestellten die Felder, so gut es eben ging, mit dem wenigen, was wir hatten, und alles schien sich endlich zum Guten zu wenden. Bis der alte Wirt vom Jägerhof den amerikanischen Soldaten tot an der Blutbuche fand, mit aufgerissenen Augen und einem Messer im Rücken.« Marie seufzt. »Was ich dir jetzt erzähle, Jola, ist die Version des alten Schlotter. Beim Anblick des toten Soldaten war ihm schlagartig klar, dass die Amerikaner von nun an alle Dorfbewohner wie Kriegsverbrecher behandeln würden, und er wusste, was das bedeuten konnte. Er schickte seinen Sohn Willi, drei Männer zu wecken, denen er vertraute, und sie zur Dorfbuche zu holen. Einer von ihnen erkannte den Griff des Messers und der aufgebrachte Trupp zog los zur Scheune, in der Tomasz schlief. Kurz darauf brach im Dorf die Hölle los.«
Marie schweigt und ich wage kaum meine Frage zu stellen: »Die Männer ⦠haben sie Tomasz umgebracht?«
Marie sieht mich an und ist gleichzeitig weit weg. »Ich weià es nicht, Jola. Als die Amerikaner sie verhörten, behaupteten die Männer, Tomasz wäre fortgewesen, als sie in der Scheune ankamen. Die Amerikaner nahmen uns alle in die Mangel, doch schlieÃlich akzeptierten sie die Geschichte vom feigen Mörder, der geflohen war. Niemand im Dorf protestierte
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