Isegrim
dagegen, alle waren froh, so glimpflich davongekommen zu sein. Auch ich schwieg, obwohl ich mir sicher war, dass Tomasz den Soldaten nicht getötet hatte. Was hätte der arme Junge auch für ein Motiv haben sollen.«
Ich schaue die alte Frau an und bin jetzt mit ihr dort, in der Scheune. Versuche zu sehen, was sie sieht. Versuche zu verstehen und habe das Gefühl, etwas steht zwischen uns, etwas fehlt in ihrer Geschichte. Als ob da ein Schmerz lauert, der zu groà ist für diesen Nachmittag im Mai.
Marie schüttelt den Kopf, als könne sie das, was passiert ist, bis heute nicht begreifen. »Die Wahrheit war das letzte Opfer des Krieges, Jola.«
»Wie ging es weiter?«, frage ich, nachdem ich das Aufnahmegerät ausgeschaltet habe. »Ist jemals herausgekommen, wer der Mörder des amerikanischen Soldaten war und warum er das getan hat?«
Marie reagiert nicht und zuerst denke ich, sie hat meine Frage gar nicht gehört. Doch dann hebt sie den Kopf und sagt: »Der junge Soldat, er hieà David und war schwarz wie die Nacht, hat mir schöne Augen gemacht und er hat mir Schokolade geschenkt. Du hast ja selbst gesehen, was für ein hübsches Mädel ich damals war, keck und voller Sehnsucht nach Leben. David hat mich manchmal mit kleinen SpäÃen zum Lachen gebracht, aber das war alles vollkommen unschuldig.«
Die alte Frau fasst sich ans Herz, eine unsichere Geste, und ich ahne, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt. Vermutlich hat sie den jungen Soldaten sehr gemocht, mehr, als das Dorf wissen durfte.
»Wie dem auch sei, es gab einen jungen Mann in Altenwinkel, der ein Auge auf mich geworfen hatte. Er sah gut aus und schmeichelte mir, aber ich wusste, dass er böse war, und wollte nichts mit ihm zu tun haben. Er hatte eine schwarze Seele. Ich vermutete damals, dass er den ⦠dass er David auf dem Gewissen hatte. Vielleicht hatte er es aus Eifersucht getan, vielleicht aber auch, weil er die Amerikaner hasste, die Hitler besiegt hatten. Beweisen konnte ich es allerdings nicht.«
»Wer war der Mann mit der schwarzen Seele?«, hake ich nach. »Lebt er etwa noch?«
Bevor Marie antworten kann, winkt Agnes vehement ab. »Tot und begraben, schon lange.«
»Und wer waren die Männer, die zur Scheune zogen? Wer hatte das Messer wiedererkannt?«
Marie schweigt und Agnes schüttelt unmerklich den Kopf.
Dieser Tomasz, denke ich, war ein Fremder, und keiner im Dorf hat ihn verteidigt, auch Marie nicht. Weil alle Angst hatten, war der Mörder davongekommen. Das war feige von den Dorfbewohnern und falsch.
Maries Blick wandert über mein Gesicht, und als ob sie meine Gedanken lesen kann, sagt sie: »Es waren Tage, in denen richtig und falsch nur schwer zu unterscheiden war.«
Meine Kehle ist staubtrocken. Endlich greife ich nach meinem Glas und trinke es in einem Zug leer.
»Ich denke, es ist nun genug«, wendet sich Agnes an mich. »Wie du siehst, hat meine Mutter das Reden sehr erschöpft.«
Die Fragestunde ist zu Ende. Ich packe meine Sachen wieder in meinen Rucksack und verabschiede mich von Marie. Sie nimmt meine Hand in ihre verkrümmten Hände und schaut mich mit einem seltsamen Lächeln an.
»Danke«, stammele ich verunsichert und stehe auf.
Agnes legt das Foto ins Album zurück und begleitet mich nach drauÃen. Als ich mich von ihr verabschieden will, sagt sie: »In letzter Zeit schläft Mutter sehr schlecht. Sie hat schlimme Träume vom Krieg und dann weint sie, ohne aufzuwachen. Ich vermute, die Ereignisse von damals suchen sie jetzt unaufhaltsam heim in den Nächten. Manchmal reden wir und dann schlafe auch ich schlecht, obwohl ich nicht gesehen habe, was sie erlebt hat.« Sie seufzt. »Dieses Gespräch hat sie sehr aufgewühlt, aber ich glaube dennoch, dass es gut war für sie.«
Ich nicke. »Ihre Mutter ist die Einzige aus dem Dorf, die bereit war, mit uns zu sprechen. Ich werde mich gleich hinsetzen und alles aufschreiben. Die Präsentation unserer Projektarbeit ist nämlich schon nächste Woche, deshalb konnten wir das Treffen auch nicht mehr verschieben. Ich werde noch einmal vorbeikommen und Ihnen den Text zu lesen geben, wenn ich fertig bin.«
Agnes nickt. »Das ist gut. Was damals passiert ist in unserem Dorf, kann niemand ungeschehen machen. Aber es sollte auch nicht einfach vergessen werden.«
Wir sehen uns an und endlich wage ich die Frage, die mir
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