Isegrim
ihre Erinnerungen gesprochen und sie aufgeschrieben habe. Es besteht die ungeheuerliche Möglichkeit, dass Martin Sievers Alina gar nicht getötet hat und ihr wahrer Mörder immer noch frei herumläuft. Ich bin dabei, meinen besten Freund zu verlieren. Irgendwo in meinem Wald zieht eine wilde Wölfin ihre Jungen auf. Und da ist Olek, der ein Geheimnis hat, das ich gerne kennen würde, und dessen Lächeln mein Herz Purzelbäume schlagen lässt.
Plötzlich steht das, worauf ich gewartet habe, klar und deutlich vor meinen Augen. Ich ziehe mir die Decke über die Ohren und wünsche mich in die warme Sicherheit meines Kokons zurück. Wenigstens für eine Nacht.
* * *
Laurentia, liebe Laurentia mein. Heute wollte ich mit dir zusammen sein.
Er hat die Tür gefunden, die Tür zum Feenreich. Doch sie war nicht da, seine Zimtprinzessin. Sie hat ihn verlassen, das ist schon eine Weile her. Sie ging in den Wald, ihn zu suchen. Und dann war da so viel Blut und sein Kopf, oh, sein Kopf â diese wilden Schmerzen.
Das Feenreich ist leer. Ich warte auf dich.
Laurentia, liebe Laurentia mein, bald werden wir wieder beisammen sein.
15. Kapitel
A m nächsten Morgen, es regnet immer noch, sitzt Ma mit dicker Backe und Zahnschmerzen am Frühstückstisch. Der Weisheitszahn macht ihr schon seit geraumer Zeit Ãrger, aber Ma hat Angst vorm Zahnarzt und schiebt den dringend notwendigen Besuch immer wieder auf. Auch heute bekämpft sie die Schmerzen mit Tabletten und verkriecht sich in ihrem Schreibzimmer. Pa verzieht sich ebenfalls, in sein Büro, um Papierkram zu erledigen.
Eine Weile sitze ich auf meinem Balkon im Schaukelstuhl, schaue dem Regen zu und hänge meinen Gedanken nach. Das seltsame Verhalten der Dorfbewohner und besonders die Bemerkung des alten Willy Schlotter lassen mir keine Ruhe.
Bin bei Marie Scherer, schreibe ich schlieÃlich auf einen Zettel und deponiere ihn unten auf dem Küchentisch. Ich ziehe meine Regenjacke über und mache mich auf den Weg.
Nach dreimaligem Klingeln öffnet Agnes endlich die Tür. Sie ist überrascht, mich zu sehen. Vermutlich haben sie und ihre Mutter noch gar nichts vom Unmut der Dorfbewohner mitbekommen.
»Ich muss mit Ihnen sprechen ⦠wegen Maries Geschichte von diesem toten Amerikaner. Es ist dringend.«
Agnes lässt mich ein und führt mich in eine kleine gemütliche Küche mit einer modernen Küchenzeile, einem schönen alten Küchenschrank und Kräutertöpfen in den Fenstern, die von Tante Lotta stammen. Offensichtlich ist sie gerade dabei, Mittagessen vorzubereiten, denn auf dem Küchentisch liegen ungeschälte Kartoffeln, Zwiebeln und Karotten.
»Zieh erst einmal deine nasse Jacke aus, ja? Ich koche uns einen Tee.« Sie nimmt mir die Jacke ab und hängt sie über eine Stuhllehne.
»Wie geht es Marie?« Ich setze mich auf die Küchenbank.
Agnes füllt den Wasserkocher auf und stellt ihn an. »Nicht so gut«, antwortet sie. »Die Geister der Vergangenheit verfolgen sie in den Nächten. Und es sind die Nächte, die darüber entscheiden, ob die Tage gut sind.«
Ich warte, bis Agnes einen dampfenden Becher Tee vor mich auf den mit Kerben und Kratzern übersäten Tisch stellt. »Danke.«
Agnes setzt sich auf einen Küchenstuhl. »Na, gibt es irgendwelche Probleme mit eurem Projekt?«
»Nein, die Präsentation ist prima gelaufen. Aber â¦Â«
»Aber?« Fragend schaut Agnes mich an. »Was ist passiert?«
»Uta Schlotter, jetzt Geppert, die Tochter vom Wirt, die ist Referendarin an unserer Schule und ⦠na ja, sie saà in der Prüfungskommission. Sie muss ihren Eltern von der ganzen Geschichte erzählt haben und â¦Â« Ich zucke hilflos die Achseln.
»Nun macht die Geschichte im Dorf die Runde und ein paar Leute sind empört«, hilft mir Agnes aus der Klemme.
»Ja.«
»Damit habe ich gerechnet.«
Ãberrascht blicke ich ihr in die Augen. »Gestern im âºJägerhofâ¹, zum Pfingsttanz ⦠Erna Euchler hat mich als Nestbeschmutzerin beschimpft und Willy Schlotter hat ⦠er hat behauptet, Marie lügt.«
»So, hat er das?« Agnes mustert mich eindringlich. »Der alte Schlotter gehörte nicht zu den Guten, Jola. Was hat er denn genau gesagt?«
Ich presse die Lippen zusammen und schüttele den Kopf. Ich bringe es nicht fertig, ihre Frage zu beantworten.
»Mensch
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