Isegrim
Mädchen, du hast neben meiner Mutter gesessen, du hast ihre Stimme gehört und ihr in die Augen gesehen. Glaubst du wirklich, sie hat sich das alles ausgedacht? Warum sollte sie das tun?«
»Nein, ich glaube nicht, dass sie sich das ausgedacht hat. Aber meine Mutter sagt ⦠sie sagt, Erinnerungen können trügerisch sein ⦠das Gedächtnis, es spielt uns Streiche.«
Agnes erwidert nichts. Sie nippt an ihrem Tee. Man sieht ihr an, dass sie in ihrem Inneren einen Kampf mit sich austrägt. SchlieÃlich steht sie auf, verlässt die Küche und kommt nach ein paar Minuten mit einem alten, kaum fingerdicken Schulheft zurück.
»Das ist das Tagebuch meiner Mutter, das sie damals geführt hat. Da steht alles drin, schwarz auf weiÃ. Deshalb kannst du dir sicher sein, dass ihre Erinnerungen den Tatsachen entsprechen.«
Vor Scham würde ich am liebsten in Grund und Boden versinken. Wie habe ich auch nur eine Sekunde an Maries Geschichte zweifeln können?
»Verstehe.« Ich will nur noch weg.
Doch Agnes hält mich am Arm fest. »Nein, bleib sitzen.«
Sie schlägt das Tagebuch auf, blättert in den vergilbten Seiten und beginnt zu lesen: »Tomasz kann immer noch nicht glauben, dass er die Hölle überlebt hat, dass er etwas Warmes zu essen im Bauch hat. Er ist so dankbar für meine Berührungen. Er ist verlaust, hat Geschwüre auf dem Kopf, die Haut hängt ihm faltig am ausgemergelten Leib, aber ich liebe ihn.«
Mir stockt der Atem. Marie und der junge Pole waren ein Liebespaar. Das ändert alles.
»Sie ⦠Sie müssen das nicht tun«, stammele ich. »Ich meine, dieses Tagebuch, das ist sehr persönlich, und â¦Â«
»Schon gut, Jola, für meine Mutter ist das in Ordnung. Sie will, dass das Tagebuch nach ihrem Tod dem Museum in Arnstadt übergeben wird. Und sie hat bestimmt nichts dagegen, dass ich dir ein paar Stellen daraus vorlese. Sie vertraut mir. Und sie vertraut dir. Du hast einen sehr guten Bericht geschrieben, weiÃt du. Du hast aufgeschrieben, was war, und niemanden beschuldigt. Du hast nicht gewertet. Das hat mir gefallen.«
Tränen sammeln sich in meinen Augen, schnell wische ich sie mit dem Handrücken weg.
»Viele Jahre über den Tod meines Stiefvaters hinaus hatte ich keine Ahnung, dass Helmut Scherer nicht mein richtiger Vater war«, erzählt Agnes. »Doch dann fand meine Tochter Brigitta beim Herumstöbern auf dem Dachboden dieses Tagebuch und las es heimlich. Brigitta hätte das nicht tun dürfen, aber sie war jung und neugierig. Sie kam damit zu mir, empört, verwirrt und verunsichert. Ich glaubte ihr das, was sie erzählte, denn es erklärte vieles. Wir legten das Tagebuch dorthin zurück, wo Brigitta es gefunden hatte, und ich nahm ihr das Versprechen ab, der Oma nichts von ihrem Fund zu erzählen. Aber auch mich lieà nicht mehr los, was ich erfahren hatte. Also holte ich das Tagebuch einige Tage später wieder hervor und las es ebenfalls.«
Sie schlägt ein paar Seiten um und beginnt erneut zu lesen: »Ich bin so glücklich, dass der Krieg endlich vorbei ist und die Amerikaner im Dorf sind. David, ein rabenschwarzer GI, hat mir heute wieder Schokolade geschenkt. Und er hat mir schöne Augen gemacht. Ich glaube, er mag mich, aber ich liebe Tomasz. Wir treffen uns heimlich in der Höhle. Mit meinem Liebsten habe ich die köstliche amerikanische Schokolade geteilt.«
Verschämt wende ich den Blick ab und schaue aus dem Fenster in den strömenden Regen. Marie Scherer und dieser polnische Junge waren damals kaum älter als Kai und ich â daran muss ich unaufhörlich denken.
»Was dann passiert ist, weiÃt du ja bereits«, sagt Agnes. »Mutter wusste, dass Tomasz den jungen schwarzen Soldaten nicht getötet haben konnte, weil sie die ganze Nacht mit ihm zusammen war. Aber, abgesehen davon, dass sie im Dorf als Polackenhure dagestanden hätte (ich zucke zusammen, als sie das Wort sagt), hätte ihr das natürlich keiner geglaubt, denn schlieÃlich war Tomaszs Messer die Tatwaffe. Jemand hatte es ihm gestohlen und damit die feige Tat begangen. Marie war schwanger mit mir und irgendwann konnte sie es nicht mehr verbergen vor ihrer Mutter.«
Stumm sehe ich Agnes an, kann das »Oh« gerade noch herunterschlucken. Agnes Scherer ist Tomasz Kaminskis Tochter .
»Ihre Eltern setzten ihr so lange zu, bis sie Helmut
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