Isegrim
Scherer heiratete, einen jungen Kriegsheimkehrer, der an der Front ein Bein verloren hatte.«
Wieder blättert Agnes und liest: »Helmut ist ein guter Mann, aber sehr still. Zu still. Er hat mich nie gefragt, wer Agnesâ Vater ist. Obwohl ich nun verheiratet bin, sitze ich noch oft in der Höhle und hoffe darauf, dass Tomasz zurückkehren und mich holen wird.« Agnes räuspert sich. »Nun, Mutter wartete vergebens. Er kam nie.«
Die Trauer, die aus den Worten in Maries Tagebuch spricht, ist so lebendig, dass ich Mühe habe, nicht in Tränen auszubrechen. Ich weià jetzt, dass Agnes Scherer die Tochter eines polnischen Zwangsarbeiters ist. Doch wer den schwarzen GI auf dem Gewissen hat und wer Tomasz damals ans Messer liefern wollte, weià ich noch immer nicht.
Mit groÃer Wahrscheinlichkeit war der Mörder des amerikanischen Soldaten unter den Männern, die mit dem Wirt zur Scheune zogen.
»Ich bin im Schweigen um all diese Dinge aufgewachsen, Jola. Gefühle, die waren tabu zwischen meinen Eltern und mir. Ãber das, was war, wurde nicht gesprochen. Helmut ⦠er war mir zeit seines Lebens ein guter Vater.« Ein dankbares Lächeln huscht über Agnes Gesicht. »Aber manchmal, da hat er mich so seltsam angesehen, als würde er mich nicht verstehen können. Nachdem ich Mutters Tagebuch gelesen hatte, wusste ich endlich, warum.«
Ich trinke den letzten Schluck von meinem Tee und begreife plötzlich noch etwas. »Ihre Tochter Brigitta, ist sie deshalb nach Polen gegangen? Wegen all der Sachen, die sie herausgefunden hat?«
»Ja. Nachdem sie das Tagebuch gelesen hatte, war sie wütend auf ihre Oma und auf das ganze Dorf. Sobald sie volljährig war, reiste Brigitta nach Polen, um nach ihrem GroÃvater zu suchen, obwohl meine Mutter annahm, dass er mit groÃer Wahrscheinlichkeit Deutschland nicht lebend verlassen hatte. Auf ihrer Suche lernte sie Marek kennen und lieben. Brigitta ist in Polen geblieben und die beiden haben geheiratet.«
»Hat sie Tomasz gefunden?«
»Nein. Mein Vater gilt als verschollen.«
»Verschollen?«, rufe ich enttäuscht aus. »Er hat es also nicht nach Hause geschafft.« Diese Nachricht trifft mich. »Dann haben die Männer ihn doch umgebracht.«
»Nein, Jola. Entgegen den Vermutungen meiner Mutter hat Tomasz es rechtzeitig geschafft, aus der Scheune zu fliehen. Er kehrte zurück in seine Heimatstadt Zary, wo er heiratete und später zur Armee ging und Berufssoldat wurde. Zwanzig Jahre nach seiner Flucht, im Oktober 1965, kam er mit einer polnischen Fallschirmjägereinheit zum »Manöver Oktobersturm« erneut nach Thüringen. Von diesem Manöver ist er nie zurückgekehrt. Im Frühjahr darauf wurde seine Tochter Ewa geboren, meine Halbschwester, die genauso wie ich ihren Vater nie kennengelernt hat.«
Ich schnappe nach Luft. »Aber was ist denn mit ihm passiert? Gab es bei diesem Manöver einen Unfall?«
»Nein, das ist ja das Merkwürdige daran. Er ist einfach verschwunden. Als Brigitta mir davon berichtete, habe ich ein wenig nachgeforscht und herausgefunden, dass man ihn zuletzt angeblich auf einem Rummelplatz in Ohrdruf gesehen hat, wo die Truppen sich nach den Ãbungsgefechten mit der Bevölkerung vergnügen sollten. Du wirst es nicht glauben, aber ich war damals auch auf diesem Rummel. Wenn ich geahnt hätte, dass â¦Â«, sie schüttelt den Kopf. »Auf jeden Fall ist mein Vater nie wieder aufgetaucht.«
Mein Herz klopft schneller. »Vielleicht war der Mörder des amerikanischen Soldaten auch auf dem Rummel. Er hat Tomasz wiedererkannt und befürchtet, dass er zurückgekommen ist, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Vielleicht ist der Mann mit der schwarzen Seele zwanzig Jahre später noch einmal zum Mörder geworden.«
»Vielleicht«, sagt Agnes, »vielleicht aber auch nicht, das wird für immer ein Geheimnis bleiben.« Sie erhebt sich. »Und jetzt entschuldige mich, Mädchen, ich muss nach meiner Mutter schauen.«
Beim Hinausgehen bleibt mein Blick an einem Foto von einer vierköpfigen Familie hängen, das im Sprossenfenster des alten Küchenschrankes steckt: eine junge blonde Frau, ein dunkelhaariger bärtiger Mann, ein kleines Mädchen mit langen blonden Locken und ein etwa vierzehnjähriger schmächtiger Junge mit groÃen Augen, der den Arm um den Hals der Frau gelegt hat. Alle
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