Isegrim
und ich verdrehen beide die Augen.
»Ich wusste gar nicht, dass Benni Maul zur Nachkriegsgeneration gehört«, sage ich schlieÃlich. Saskia kichert und auch die beiden Jungs grinsen.
Kurz darauf verlassen wir vier den Saal, denn keiner von uns hat noch Lust, länger zu bleiben. Meine Blase meldet sich. Als ich von der Toilette komme, laufe ich im dunklen Gang des Wirtshauses dem alten Willi Schlotter in die Arme.
»Sie lügt, die Polackenhure«, krächzt er und seine hässlichen Worte enden in einem Hustenanfall.
Ich will nur noch weg.
Polackenhure? Meint Willi damit Marie Scherer? War sie damals nicht in den jungen schwarzen Soldaten, sondern in Tomasz verliebt? Auf diesen Gedanken bin ich überhaupt nicht gekommen.
Heute Nacht werde ich es nicht mehr herausfinden, also versuche ich, mich mit Jack Londons »Wolfsblut« abzulenken.
Als meine Eltern gegen Mitternacht nach Hause kommen, lese ich immer noch. Ich höre Schritte im Flur, gleich darauf klopft es leise an meiner Zimmertür. »Jola, darf ich reinkommen?«
Da steht Ma auch schon in meinem Zimmer. Sie setzt sich zu mir aufs Bett. Ihre Kleider stinken nach Kneipe und ihre rechte Wange ist gerötet, aber ihre Augen leuchten noch immer.
»Na, da habt ihr ja ganz schön für Aufregung im Dorf gesorgt mit eurem brisanten Zeitzeugenbericht«, sagt sie.
Ich lege mein Buch zur Seite. »Die alte Euchler hat mich als Nestbeschmutzerin beschimpft. Die Eier wirst du in Zukunft selber holen müssen, ich gehe da nicht mehr hin.«
»Die Gemüter werden sich auch wieder beruhigen, Jola. Das Ganze ist doch ewig her und längst Geschichte.«
»Das dachte ich auch«, bemerke ich frustriert. »Hat Oma Mine dir eigentlich nie etwas von diesem toten Soldaten und dem Polen erzählt? Und Opa August, was war mit dem? Hat er vielleicht mit Pa darüber gesprochen?«
Ma schüttelt den Kopf. »Nein. Ãber solche Dinge wurde nicht geredet. Niemand tat das. Alles, was den Krieg betraf, wurde totgeschwiegen.«
»Die Leute aus dem Dorf haben damals alle zusammengehalten und einen Mörder gedeckt. Sie wollten einen unschuldigen Fremden ans Messer liefern. Vielleicht haben sie den Polen ja umgebracht, damit er keine Chance hatte, seine Unschuld zu beweisen.«
»Das kannst du doch gar nicht so genau wissen.« Ma streckt die Hand aus und streicht mir übers Haar. »Unsere Erinnerungen führen uns gern hinters Licht, Jola. Besonders bei erinnerten Gefühlen, die sehr zu Herzen gehen, bewegt man sich auf dünnem Eis. Unser Gehirn webt sich etwas aus Realität und Fiktion zusammen, weil sich das Geschehene so besser verarbeiten lässt. Aber wir glauben felsenfest, dass es sich so und nicht anders zugetragen hat.«
»Willst du damit sagen, dass Marie gelogen hat?«
»Nein.« Ma schüttelt den Kopf. »Ich will dich nur darum bitten, dass du offen bleibst. Schwarz-WeiÃ-Denken bringt dich nicht weit.«
»Das werde ich.«
»Dann schlaf gut â und mach dir nicht zu viele Gedanken, ja.«
Das ist leicht gesagt.
»Ma?«
»Ja?«
»Deine Wange ist ganz rot. Hast du wieder Zahnschmerzen?«
»Ja, der blöde Weisheitszahn muckert wieder.«
»Du musst endlich zum Zahnarzt.«
»Ich weiÃ.«
Nachdem meine Mutter die Tür hinter sich geschlossen hat, knipse ich das Licht aus und starre durch das Viereck in den Nachthimmel, wo kein einziger Stern zu sehen ist. Es hat wieder angefangen zu regnen, die Tropfen drippeln aufs Fensterglas.
Mas Worte von der trügerischen Erinnerung gehen mir nicht aus dem Sinn. Ich sehe die von der Vergangenheit aufgewühlte Marie vor mir und frage mich, ob die Erschütterung im Herzen der alten Frau noch eine tiefere Ursache hatte als ihre Erinnerung an eine unaussprechlich schlimme Zeit.
Ich muss unbedingt noch einmal zu Marie und Agnes. Ich muss die beiden Frauen warnen, damit der Groll des Dorfes sie nicht völlig unvorbereitet trifft, so wie mich heute Abend im »Jägerhof«.
Gegen drei liege ich immer noch wach und lausche dem Regen. Noch vor ein paar Wochen hat das Warten mich verrückt gemacht, habe ich mich eingesponnen gefühlt wie in einem Kokon. Jetzt habe ich auf einmal eine ganze Reihe von Problemen am Hals und fühle mich ihnen schutzlos ausgeliefert.
Offensichtlich gefällt es ein paar Leuten aus dem Dorf ganz und gar nicht, dass ich mit einer alten Frau über
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