Isegrim
vorgestellt habe: Auf das hier bin ich nicht vorbereitet.
Bleib ganz ruhig, Jola, sagt die Stimme der Vernunft in meinem Kopf. Sie ist schon seit fünf Jahren tot. Das ist nicht mehr Alina, das ist nur noch ein Häuflein bleicher Knochen.
Gegen einen Felsblock gelehnt, sitzt der Rest. Kopflos. Nur zusammengehalten von ein paar Fetzen Stoff. Eine skelettierte Hand schaut aus einem Stück Ãrmel hervor. Mein erster Impuls ist davonzulaufen, nur raus aus dieser dunklen Grabkammer, und zwar so schnell wie möglich. Aber meine Beine fühlen sich an wie Stalagmiten, meine ganze Energie ist weg.
Ein paar Sekunden später bin ich endlich fähig, noch ein paar Schritte auf das Skelett zuzugehen. Erst als ich direkt davorstehe, begreife ich meinen Irrtum: Das ist nicht Alina. Der Rumpf steckt in den Ãberresten einer mit Abzeichen dekorierten Uniform, die Beine in staubbedeckten Soldatenstiefeln.
Nur die von grauem Gesteinsstaub bedeckte Uniform hält die Skelettteile noch zusammen. Vermutlich sitzt dieser arme Kerl hier schon ein ganzes Weilchen.
Und dann trifft mich schlagartig die Erkenntnis: Das hier ist womöglich Maries Höhle und der da kopflos sitzt, ist Tomasz, ihr Liebster. Ich weià nicht, warum, aber ich bin mir völlig sicher, dass es so sein muss. Nach zwanzig Jahren kam er zurück und wurde ermordet â so, wie ich es vermutet habe. Der Mörder hat ihn in die Höhle gebracht und den Zugang verschlossen. Deshalb hat niemand diese Höhle gefunden, als man den Tambuch nach Alina abgesucht hat.
Das Sturmtief muss Anfang dieses Jahres einen anderen Zugang zur Höhle freigelegt haben, doch weil dieses Stück Wald nicht bewirtschaftet wird, hat bisher noch niemand die Höhle entdeckt. Bis auf Olek.
»Komm, Wilma«, sage ich. »Suchen wir den anderen Eingang.«
Die Batterien meiner Taschenlampe beginnen zu schwächeln, als ich Wilma in den letzten der drei Gänge folge, der in langen, stufenartigen Absätzen nach oben führt.
Ich höre Wilma aufgeregt winseln, mache mir aber keine Sorgen, denn wenn Gefahr droht, würde sie anschlagen. Der etwa einen Meter breite Gang endet in einer weiteren Höhlenkammer, und als ich sie betrete, nehme ich zuerst den starken Geruch von erloschenem Holzfeuer wahr und um wie viel wärmer es hier ist. Von schräg oben fällt Licht durch ein rundes Loch in der Wand, direkt auf eine ebene Steinplatte, die offenbar als Tisch dient und auf der eine offene Pfirsichdose und eine leere Colaflasche stehen.
Mein Blick wandert durch den Höhlenraum, der ungefähr vier Mal fünf Meter groà und an der Wand mit dem Fensterloch knapp drei Meter hoch ist. Die Feuerstelle entdecke ich direkt unter dem Fensterloch, daneben lehnt eine Holzleiter. An der einzig geraden Wand steht ein Holzregal mit Einweck- und Marmeladengläsern. An der Wand rechts neben dem Eingang hängen Oleks Bogen und der Köcher an Haken in der Wand, daneben lehnt am Boden ein Holzrahmen mit gespanntem Fell â ein Kaninchen. In verschiedenen Nischen im Fels befindet sich Hausrat: eine Pfanne, zwei Töpfe, eine Tasse.
Ein leises Stöhnen lässt mich zusammenzucken. Ich richte den Strahl meiner Taschenlampe in den linken, den niedrigeren Teil der Höhle. Zwischen dem Steintisch und einem tiefen, etwa kniehohen steinernen Absatz steht Wilma mit wedelndem Schwanz. Auf diesem Felsbett, zusammengekrümmt auf einer geblümten Matratze, liegt Olek mit nacktem Oberkörper, bis zur Hüfte zugedeckt von Mas schmerzlich vermisster Fleecedecke. Ãber ihm an der Decke baumeln Gebilde aus Federn, Draht und Knochen: Tierfetische.
»Hierher, Wilma.«
Ich lasse Wilma im Höhleneingang Platz nehmen und knie mich neben Olek auf die Matratze. Die Batterien geben nur noch schwaches Licht, aber es ist hell genug, um zu erkennen, dass Oleks Brust, sein Hals und sein Gesicht glänzen vor SchweiÃ. Seine Augen blinzeln im Licht. »Olek?«
Keine Reaktion. Ein Anfall von Schüttelfrost lässt seinen Körper erbeben, seine Zähne beginnen zu klappern. Ich rüttle ihn an der Schulter. »Olek?«
Plötzlich reiÃt er die Augen auf, schnellt hoch und packt mein linkes Handgelenk. »Nie blokuja«, keucht er. »Nie blokuja, nie blokuja.«
Oleks verletzte Hand ist ein glühender Schraubstock. Die Taschenlampe entgleitet mir und rollt zu Boden und ich beiÃe mir auf die Unterlippe, um nicht laut
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