Isegrim
auch noch mit Lebensmitteln versorge, wird mein Ruf vollkommen ruiniert sein. Ich kann sie schon hören, die Alten. Nestbeschmutzerin. Räuberbraut. Polackenliebchen.
Er ist weg, Jola.
Hat alles stehen und liegen lassen und hat sich aus dem Staub gemacht. An seiner Stelle hättest du nicht anders gehandelt. Offensichtlich hat das Cefuroxim schnell gewirkt. Im Grunde muss ich mich darüber freuen. Aber wenn Olek weg ist, was wird dann aus mir?
Ich lege die Arme auf meine Knie, lasse den Kopf darauf sinken und fange an zu heulen. Meine Schultern zucken, Schluchzer kommen tief aus meinem Inneren und Tränen strömen über meine Unterarme. Ich flenne, wie ich es seit Alinas Verschwinden nicht mehr getan habe.
»Jola.«
Mein Kopf schnellt in die Höhe. Da steht er, nur zwei Meter von mir entfernt. Er trägt den Holzbogen quer über der Brust, fünf oder sechs gefiederte Pfeilenden ragen aus dem Köcher auf seinem Rücken und er hält ein totes Kaninchen an den Läufen. Ich schniefe und wische mir mit dem Handrücken über Augen und Nase. Bin völlig hin- und hergerissen. Sprachlos.
Was Oleks Anblick in mir auslöst, ist überwältigend. Die eiserne Klammer fällt ab und mein Herz beginnt, heftiger zu schlagen. Ich bin nicht allein. Wenn ich die Prüfungen vermassele, wenn Kai Schluss macht, wenn niemand im Dorf mehr mit mir spricht, dann kann ich zu meinem Waldelf in die Höhle ziehen und mit ihm hier leben. Ich würde sogar wieder Fleisch essen, wenn es sein muss.
Träumerin.
»Du weinst.« Olek blickt bestürzt.
»Freudentränen«, schniefe ich.
Er legt das Kaninchen auf einem Holzblock neben seinem selbst gebauten Herd ab und befreit sich vom Bogen und dem Rückenköcher, die er beide an die dafür vorgesehenen Haken in der Wand hängt. Er trägt Kais Party Hard -T-Shirt und zum ersten Mal muss ich wirklich über den dämlichen Spruch lachen.
Nachdem der Tumult in meinem Herzen sich ein wenig gelegt hat, finde ich auch die Worte wieder. »Es ist nichts. Ich dachte nur, du wärst ⦠weg.«
Olek setzt sich mir gegenüber auf den niedrigen Steintisch, sodass sich bei der kleinsten Bewegung unsere Knie berühren. Der Duft von Kiefernharz, Waldboden und wilder Minze geht von seinem Körper aus.
»Wo soll ich denn hin?«
Seine Frage tröstet und beunruhigt mich gleichermaÃen.
»Nach Hause?«
»Das ist mein Zuhause.«
Okay. »Schön, dein Zuhause. Nur dein Mitbewohner, der ist â¦Â«
»Schon sehr lange tot. Ist guter Nachbar, ist ⦠Gesellschaft. Manchmal rede ich mit ihm.«
»Wow.«
Oleks Deutsch ist gut. Ein paar Worte sind verdreht, aber ich verstehe ihn bestens.
»Jola?«
»Ja?«
»Danke für mein Leben.«
Ich murmele ein verlegenes »War doch selbstverständlich«. »Hast du ⦠hast du jemandem erzählt von mir und dieser Höhle?«
»Nein, Olek.« Ich schüttele vehement den Kopf. »Und das werde ich auch nicht.«
»Gut. Auch von der Wölfin darfst du niemandem erzählen.«
»Mach ich nicht.«
»Versprich es mir.«
»Ich schwörâs.«
»Gut.« Sein Lächeln ruft einen kleinen Tumult in meinem Herzen hervor. Oleks obere Schneidezähne stehen schief, aber seine Augen, die sind wirklich schön.
»Sie hat Welpen, nicht wahr?«
»Vier Stück.«
»Gibt es einen Rüden?«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Sie ist â¦Â«, Olek scheint nach einem passenden Wort zu suchen. »Alleinerziehend«, sagt er schlieÃlich. »Ist Stress so allein mit den vier Kleinen, deshalb ich helfe ein bisschen.«
»Du hilfst ihr ein bisschen?« Ich deute auf den Bogen an der Felswand. »Damit?«
»Ja.« Er legt den Kopf schief.
»Was du da tust, Olek, wird nicht ewig unentdeckt bleiben. Mein Vater, er â¦Â«
»Der Jäger?«
»Er ist Förster. Und Jäger. Das Sperrgebiet ist sein Revier. Die Wölfin, sie hinterlässt Spuren. Losung an den Wegkreuzen, Reste von Rissen, Trittsiegel im Schlamm an der Wildsuhle.«
»Ich weiÃ. Ich beseitige Spuren, halte sie mit Menschengeruch fern. Es funktioniert.«
Menschengeruch? »Deswegen hast du dort überall hingepinkelt.« Er hat tatsächlich sein Revier markiert, damit die Wölfin fernbleibt.
Olek nickt. »Du doch auch.«
Die drei kleinen Worte treiben mir das Blut
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