Isegrim
gemeldet?«
»Bis jetzt noch nicht«, meint Marco achselzuckend. »Ist wohl nicht das erste Mal, dass Lisa einfach so verschwindet. Wahrscheinlich taucht sie morgen wieder auf und lacht über die ganze Aufregung.«
Vielleicht, denke ich. Vielleicht aber auch nicht. Mag sein, dass Lisa kein Kind von Traurigkeit ist, doch die Sache gefällt mir nicht. Lisa Menninger ist klein und zierlich und hatte genauso blonde Locken wie Alina.
Habe ich gerade hatte gedacht?
Saskia erinnert sich natürlich sofort daran, dass Lisa mit diesem fremden Jungen getanzt hat, der kurz darauf zusammengeklappt ist. Auf dem Pausenhof versucht sie, mich über Olek auszuquetschen, aber ich gebe vor, nichts über ihn zu wissen. Die kleine Lüge geht mir flüssig über die Lippen.
»Sie hat an diesem Tag mit locker hundert Leuten getanzt, Sassy«, erinnere ich sie. »Mit Magnus zum Beispiel. Und vorher mit Clemens.«
Falscher Name. Saskia guckt auf einmal ganz finster. Sie kann Lisa eigentlich nicht ausstehen, weil sie eine der Grazien ist, die Clemens umschwirren wie Motten das Licht.
»Ach, der ist schon nichts passiert«, sagt sie. »Die ist bestimmt mit irgendeinem Typen von âner Band abgehauen. Von mir aus kann die Schnepfe bleiben, wo der Pfeffer wächst.« Womit für sie das Thema erst einmal erledigt ist.
Für mich ist es das allerdings nicht. Mit Lisas Verschwinden beginnen sich all die Dinge, die ich in den letzten Tagen erfahren oder bemerkt habe, wie lose Fäden zu einem Bild zu verweben, das auf der Schattenwand ein beängstigendes Ungeheuer entstehen lässt.
Als ich nach Hause komme, steht nicht wie gewohnt das Mittagessen auf dem Tisch. Ma sitzt mit schmerzverzerrtem Gesicht im Wohnzimmer. Beim Ziehen des Weisheitszahns hat der Arzt einen Nerv verletzt und die Tabletten, die sie bekommen hat, helfen nicht gegen die höllischen Schmerzen. Es geht ihr so schlecht, dass Pa mich bittet, sie nicht alleine zu lassen.
»Kümmere dich ein bisschen um Mama, okay? Ich bitte dich selten um etwas, Jola, das weiÃt du. Aber heute bitte ich dich, mal einen Nachmittag nicht auszuschwärmen und dich um deine Mutter zu kümmern. Ich muss nach Arnstadt zu einer Versammlung und weià nicht, wie lange das Ganze dauert.«
Mir gelingt ein halbwegs passables »Okay«. Sich unauffällig zu verhalten, wenn dein ganzes Leben auf den Kopf steht, ist gar nicht so einfach. Ma hat man bloà einen Weisheitszahn gezogen, aber Olek liegt allein da drauÃen in seiner Höhle, er hat Fieber und ich weià nicht, ob das Medikament angeschlagen hat und ob er wirklich kapiert hat, dass er die restlichen Tabletten regelmäÃig nehmen muss.
Dass ich gezwungen bin, im Haus zu bleiben, hat allerdings eine positive Nebenwirkung. Kein Schaden ohne Nutzen, wie Oma Mine sagen würde. Freitag haben wir Deutschprüfung und Montag ist Mathe dran. Für Deutsch kann ich nicht lernen, aber für Mathe. Ich bin also eine brave Tochter und bleibe in der Nähe meiner Mutter. Ich versuche, mir Formeln, Gleichungen und mathematische Lehrsätze einzuprägen, doch in Wahrheit verbringe ich den Nachmittag damit, mir um Olek Sorgen zu machen.
Später kommt Kai spontan vorbei. Wir sitzen auf der Terrasse, trinken Holunderblütenlimonade und Kai erzählt mir voller Entrüstung, dass sein geliebtes Party Hard -T-Shirt verschwunden ist. »Von der Leine geklaut«, wettert er. »Meine Mutter vermisst zwei Handtücher. Und einer ihrer Gartenschuhe ist weg. Ich glaube einfach nicht, dass das Kids aus dem Dorf sind. Das würden sie sich nicht trauen.«
Mit etwas Glück entgeht Kai, dass ich rot anlaufe. Schnell trinke ich einen Schluck von meiner Limonade. Olek, Olek, Olek. Musste es ausgerechnet Kais Lieblings-T-Shirt sein?
»Keine Ahnung, wer das sein soll«, antworte ich. »Uns fehlt eine Fleecedecke, sie lag auf der Terrasse.«
»Das ist ein ziemlich dreister Dieb, oder nicht? Mein Vater und ich wollen ihm das Handwerk legen.«
Auch das noch.
»Hast du von Marco noch was Neues über Lisa gehört?«, versuche ich ihn abzulenken.
Kai schüttelt den Kopf, Lisa scheint nicht sein Thema zu sein. Dennoch will ich ihm gerade von meinen unheilvollen Vermutungen über Hubert Trefflich berichten, als er mit vorwurfsvollem Blick einen zusammengefalteten Zeitungsartikel aus der GesäÃtasche zieht und vor mir auf den Tisch
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