Isegrim
ins Gesicht. Weià Gott, wie oft ich dort in die Büsche gepinkelt habe, in dem Glauben, allein zu sein mit Fuchs und Hase. Aber das ist nun auch egal.
»Olek«, sage ich, »du kannst nicht verhindern, dass die Leute aus dem Dorf irgendwann spitzkriegen, dass sich in ihrer Nähe eine Wölfin niedergelassen hat. Und dann wird die Hölle los sein.«
»Die Hölle?«
»Na ja, es wird ziemlich viel Wirbel geben. Die Leute werden Angst haben, die Wölfin könnte sich an kleinen Kindern vergreifen, und Stimmung gegen sie machen.«
»Ist Schwachsinn. GroÃen Schwachsinn.«
»GroÃer Schwachsinn«, verbessere ich ihn. »Es heiÃt: Groà er Schwachsinn.«
»Sie ist sehr scheu. Sie mag Menschengeruch nicht.«
»Ja, ich weiÃ. Aber die Leute haben Vorurteile. Sie fürchten sich nun mal vor Wölfen.« Und mit Argumenten ist gegen tief sitzende Ãngste nichts auszurichten, mit dieser Problematik kenne ich mich bestens aus.
»Eigentlich jagt sie nur in der Nacht«, sagt Olek. »Aber sie hat Stress. Die Kleinen haben Hunger, sie hat keinen Gefährten, kein Rudel und das Wild ist kräftig und schnell.«
Ich muss an die Schafe am Waldrand denken. Leichte Beute,Häppchen auf dem Silbertablett. Wenn es stimmt, was Olek da erzählt, dann ist es nur eine Frage der Zeit, dass die Wölfin sich ein Schaf holt oder eine Gans.
Das Vernünftigste wäre, mit meinem Vater zu sprechen. Aber ich will nicht, dass das Märchen von Olek und mir zu Ende ist, bevor es richtig angefangen hat. AuÃerdem habe ich gerade einen Schwur geleistet.
»Wie geht es deiner Hand?«
»Besser.«
»Hast du die Tabletten genommen?«
Er nickt.
Ich hole eine frische Mullbinde aus meinem Rucksack. »Ich wechsele deinen Verband und schaue mir die Wunde an, okay?«
Olek hält mir seine Rechte entgegen. Die Hand ist nicht mehr geschwollen, die beiden Bisslöcher in Zeige- und Mittelfinger sind noch rot umrandet und ich schnuppere daran.
»Sieht gut aus«, sage ich. »Nimm dich das nächste Mal vor dem Hofhund in Acht.«
Verlegen wendet er den Blick ab.
»Du schleichst im Dorf herum und beklaust die Leute, Olek. Du bist ein Dieb. Du hast auch mich bestohlen.«
Wortlos langt er in die Seitentasche seiner Shorts und reicht mir mein Opinel. Ich schiebe seine Hand von mir weg.
»Behalte es, du kannst es mehr gebrauchen als ich. Es geht dabei auch nicht um mich, Olek. Die Leute sind wütend, sie werden dir eine Falle stellen und irgendwann kriegen sie dich.«
»Niemand kriegt mich.« Er steckt das Messer wieder ein.
Ich habe dich . »Wo kommst du eigentlich her? Ich meine, irgendwo muss doch deine Familie sein.«
Schweigen.
»Du kommst aus Polen, nicht wahr?« Ich deute auf das Wörterbuch. »Warum versteckst du dich hier, Olek?«
Kopfschütteln.
»Du kannst mir vertrauen, ich verrate dich nicht.«
Wieder gequältes Kopfschütteln. Olek sieht aus, als ob er mir alles erzählen will und nicht kann. »Wenn ich es dir sage, dann â¦Â«
»Müsstest du mich töten, ich weiÃ.«
Ich habe ihn tatsächlich zum Lachen gebracht, meinen geheimnisvollen Höhlenbewohner. Ein Blick auf meine Armbanduhr sagt mir, dass ich mich auf den Rückweg machen muss. Doch dann fällt mir Lisa ein. Ich frage Olek, ob er sich an sie erinnern kann.
Er nickt. Legt die Stirn in Falten. »Warum?«
»Sie ist verschwunden, seit dem Open Air.«
Ein Schatten zieht über Oleks Gesicht. »Warum du mich fragst?«
»Vielleicht hast du ja was gesehen.«
Er schüttelt den Kopf. »Es war dumm von mir, dorthin zu gehen. Sehr dumm. Ich ⦠ich wollte Musik hören, Leute tanzen sehen. Manchmal ⦠ich bin immer allein.«
Mein Magen zieht sich zusammen. Olek ist einsam. Am liebsten möchte ich ihn in die Arme nehmen, ihm sagen, dass er nun nicht mehr allein ist. Dass ich ja jetzt da bin, dass alles gut wird, dass â¦
»Jola?«
»Ja?«
»Du musst aufpassen.«
»Aufpassen?«
»Auf dich aufpassen. Hier im Wald. Ist nicht gut, dass du immer allein unterwegs bist. Ich versuche ⦠ich â¦Â«
»Du passt auf mich auf?«
Er nickt.
In Anbetracht der Tatsache, dass erneut ein Mädchen verschwunden ist, und meinem seit Wochen anhaltenden Gefühl, dass der Wald Augen hat, bin ich unheimlich froh über Oleks Geständnis.
Trotzdem sage ich:
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