Isegrim
»Aber das musst du nicht. Ich bin ein groÃes Mädchen und kann auf mich selber aufpassen.«
18. Kapitel
I n der schriftlichen Deutschprüfung wähle ich die Gedichtinterpretation. Das Gedicht heiÃt »Die Stadt der Augen« und ist von Kurt Tucholsky. Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider â Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück ⦠Vorbei, verweht, nie wieder.
Das Gedicht berührt etwas in mir, weil es von der Einsamkeit der Menschen in den groÃen Städten erzählt. Tucholsky hat es 1930 geschrieben und zweiundachtzig Jahre später passt es noch mehr als damals. Das ist geradezu unheimlich und imponiert mir.
»Und, wie ist es gelaufen?«, fragt Saskia mich später auf dem Pausenhof.
»Super, ich hab ein gutes Gefühl. Und bei dir?«
»Ich habe die Filmbeurteilung genommen. War kein groÃes Ding.«
Kai macht ein langes Gesicht. Er hat sich die Aufgabe »Verfasse einen Beschwerdebrief« ausgesucht und ist sich unsicher, ob er auch alles richtig gemacht hat.
»Ich hasse es, irgendetwas schreiben zu müssen«, mosert er. »Keine Ahnung, wie ich diesen Stress noch zwei Jahre aushalten soll. Wäre ich nicht aufs Gymnasium gegangen, wäre jetzt alles bald vorbei.«
»Red keinen Blödsinn.« Saskia schnaubt ärgerlich. »Wenn du eine Lehre machst, hast du genauso Schule. Du packst das schon.«
An der Bushaltestelle erfahren wir, dass Lisa immer noch nicht wieder aufgetaucht ist. Bedrückt und völlig geschafft lassen wir uns nach Hause karren. Es gibt keine Verabredungen für das Wochenende. Am Montag steht die schriftliche Matheprüfung an, jeder von uns wird die nächsten beiden Tage über dem Mathe-Hefter verbringen.
Kai und ich laufen nebeneinander her in Richtung DorfstraÃe. Meine Gedanken kreisen so intensiv um die verschwundene Lisa, dass ich die bösen Blicke gar nicht wahrnehme, die uns die beiden alten Männer zuwerfen. Sie stehen vor der Tischlerei und ihr Gespräch verstummt.
»Was glotzt der denn so dämlich?«, brummelt Kai ärgerlich, als wir an ihnen vorbei sind.
Ich hebe den Kopf und drehe mich um. Tatsächlich starren sie uns mit grimmigen Mienen nach, aber sich darüber aufzuregen, ändert nichts, das habe ich inzwischen kapiert.
»Ach, lass sie doch«, sage ich. »Die kriegen sich auch wieder ein. Sobald es neuen Klatsch im Dorf gibt, kräht kein Hahn mehr nach Maries Geschichte.«
»Na, dann sorgen wir doch gleich mal für neuen Klatsch.« Ehe ich mich versehe, packt Kai mich an den Schultern und küsst mich wild.
»He, was soll denn das?« Ich schnappe nach Luft, schiebe ihn von mir. Ich laufe weiter, werde schneller. Kai trabt mir nach.
»Was das soll?«, fragt er gereizt. »Ich weià es nicht, Jola, sag du es mir. Du und ich, wir sehen uns kaum noch, und wenn wir zusammen sind, bist du mit deinen Gedanken ganz woanders.«
Ich drehe mich zu ihm um und laufe rückwärts weiter. Ich sollte ihm die Wahrheit sagen, wenn ich nur wüsste, was die Wahrheit ist. Habe ich mich in Olek verliebt? Und wenn ja, was bedeutet es, sich in einen Gast auf Erden zu verlieben? Ich schaffe es nicht, etwas offen infrage zu stellen, das langsam und stetig gewachsen, das sicher und bodenständig ist. Das Vertraute aufzugeben für etwas, das nicht wirklicher als ein Traum zu sein scheint.
»Es sind Prüfungen, ich hab Stress. AuÃerdem â¦Â«
»Ach, hör doch auf, mir was vorzumachen«, unterbricht er mich. »Du bist dauernd in deinem Wald. Man könnte fast meinen, du triffst dich da mit wem.«
Mist! Schnell drehe ich mich wieder um. Mag sein, dass ich eine gute Lügnerin bin, aber Kais Instinkte funktionieren offensichtlich auch sehr gut.
»Du bist eifersüchtig auf Schrecken und Schleichen?« Ich versuche, locker zu klingen. Wir sind vor Kais Hofeinfahrt angelangt und ich bleibe stehen.
Kai kommt ganz nah an mich heran. »Keine Ahnung«, sagt er. »Irgendwie läuft es in letzter Zeit beschissen und ich ⦠ich habe das Gefühl, nichts dagegen tun zu können. Dein Wald, er ⦠er stiehlt mir Zeit mit dir, Jola. Ich will mit dir schlafen. Du fehlst mir.«
All die zwiespältigen Gefühle, die ich in mir habe, bilden einen Klumpen in meiner Kehle. Kai spürt, dass ich mich verändere. Der Wald verkörpert für ihn alles, was er an mir nicht
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